Leben und Werk, Zeit und Tod
Gertrud Kolmar
Gertrud Kolmar war eine der großen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Man kennt zwar viele ihrer Gedichte, über ihr Leben ist aber wenig bekannt. Für seine Biografie hat Dieter Kühn unter anderem ihre Briefe gelesen und in Archiven geforscht.
8. April 2017, 21:58
Auf den Familienbildern steht sie am Rand oder ganz hinten, ein etwas ältlich wirkendes Fräulein, das sich zu verstecken sucht. Sie macht sich klein, ist zurückhaltend und scheu. Allein die Augen fallen auf. Sie seien voller Leidenschaft gewesen, wissen Fotos und Freunde zu erzählen. Die sprechenden Augen gehören Gertrud Kolmar, einer der großen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Man kennt viele ihrer Gedichte und weiß doch sehr wenig über ihr Leben. Das könnte sich nun, mit Dieter Kühns neuem Buch, verändern. "Gertrud Kolmar – Leben und Werk, Zeit und Tod" nennt er sein Porträt der Autorin.
Kühn hat ihre Briefe gelesen und die Familienchronik befragt, er hat sich in die Lieblingslektüre der Dichterin vertieft und in Archiven geforscht. Vor allem aber hat er sich nicht gescheut, Teile dieser ihm fremden Biografie vorsichtig zu imaginieren.
Unbeschwerte Jugend
Gertrud Kolmar - ihr Nachname ist ein Pseudonym - hat sich nie an ein größeres Publikum gewandt, der Schaffensprozess war ihr wichtiger als das Echo von außen oder das Interesse an ihrer Person. Entsprechend rar sind auch ihre Lebenszeugnisse. Dieter Kühn füllt die Leerstellen. Er beschreibt ihre Jugend im Berlin der wilhelminischen Ära, die unbeschwerte Zeit als 1894 geborene Tochter der Chodziesners, wie die Familie heißt.
Der Vater ist ein renommierter jüdischer Anwalt, dessen Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Gertrud macht erste Erfahrungen als Sprachlehrerin und Erzieherin und durchlebt das Trauma einer ungewollten Schwangerschaft und gescheiterten Liebe. Spätestens nach dem Tod der Mutter übernimmt sie den Haushalt und die Büroagenden ihres Vaters. Da lebt die Familie schon in einem Haus mit Garten in Finkenkrug, etwas außerhalb von Berlin, ein Stück weit weg von der Welt.
Ausharrens, allen Widrigkeiten zum Trotz
1917 erscheint ein erster Band mit Gedichten, erst 17 Jahre später ein weiterer. Dazwischen liegen einige wenige Publikationen in Zeitschriften, vermittelt unter anderem von Walter Benjamin, Kolmars Cousin. Als 1934 dann die "Preußischen Wappen" herauskommen, sind die Nationalsozialisten schon an der Macht. Vier Jahre später wird das Haus der Chodziesners arisiert, Vater und Tochter müssen in eine Wohnung im Zentrum Berlins übersiedeln.
Zu jenem Zeitpunkt sind Gertruds Geschwister längst emigriert. Sie bestürmen die beiden Zurückgebliebenen, sich dem Gedanken an eine Ausreise endlich ernsthaft zu stellen. Doch der Vater ist alt und stolz, er verschanzt sich hinter der preußischen Tugend des Ausharrens, allen Widrigkeiten zum Trotz. Die Tochter will ihn nicht allein lassen.
Und überhaupt: Gertrud Kolmar scheint den immer schwieriger werdenden Alltag erstaunlich gelassen hingenommen zu haben. Die Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik, die Mieter, die man ungefragt in ihrer Wohnung einquartiert, die zahlreichen Verordnungen und Gebote, mit denen die Juden schikaniert werden. Vom Verlust aller Vermögenswerte, von Immobilien, Schmuck und Gütern wie Elektroöfen, Staubsaugern und Bügeleisen, aber auch Schreibmaschinen oder Fahrrädern ganz zu schweigen.
Zeitzeugen des Nazi-Terrrors
Dieter Kühn hat dies alles sorgsam recherchiert. Kolmars letzte Lebensjahre, in denen sie kontinuierlich weiter schreibt, sind sehr viel ausführlicher dokumentiert, als die Zeit zuvor. Dort, wo die Stimme der Dichterin fehlt, lässt er andere sprechen: Schriftsteller und Zeitzeugen, Anwälte, Gesetzesblätter, Goebbels Tagebuch. Auf diese Weise entsteht ein weites Tableau des Deutschlands des Nazi-Terrors: Wie lebt man als Jude in Deutschland? Wohin flüchtet man sich beim Schreiben? Der Alltag und das fragile Lebensgefühl werden plastisch beschrieben.
Kühns Buch wurzelt in seiner eigenen Biografie - und das spürt man. Auch in seiner Familie hat es jüdische Vorfahren gegeben. Man hat sie ihm lange verschwiegen, hat sie nie erwähnt und ihre Namen zu verändern gesucht. Eine Erfahrung, die nun zum Ferment dieses Porträts geworden ist, wie er gesteht. Und überhaupt: Man erkennt ihn als Autor und Menschen.
Die Rolle des Opfers kultiviert
Dieter Kühn hält Gertrud Kolmar für eine der bedeutendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Und weil er sie für immer noch zu wenig geschätzt erachtet, präsentiert er in diesem Buch auch eine Vielzahl ihrer Gedichte. Nicht allein deshalb, um in ihnen die Spuren von Kolmars Leben zu orten, sondern ihrer expressiven poetischen Kraft wegen, die nicht nur ihn in den Bann zieht.
Doch bei aller Bewunderung bewahrt sich Kühn seinen kühlen Blick. Er verrät seine Schwierigkeiten mit den Gartenlauben-Gedichten der Anfänge oder dem pathetischen Robespierre-Zyklus der Jahre 1933/34. Er staunt darüber, dass Gertrud Kolmar nach 1939 Hebräisch zu lernen begann und fortan auch einen Großteil ihrer Gedichte in dieser Sprache verfasste - sie, die nie eine Synagoge betreten hat, deren Familie vollends assimiliert war. Vor allem aber rätselt Kühn über die Gründe dafür, dass die Dichterin nach der Deportation des Vaters nicht doch noch untergetaucht oder geflüchtet ist. Er vermutet, dass sie sich da schon längst in der Rolle des Opfers eingerichtet hat, die sie zeitlebens kultiviert hatte. Noch im Jänner 1943 bekennt sie in einem Brief ihre amor fati - die Liebe zum Schicksal. Wenige Wochen später wird sie in ein Sammellager verschleppt und 1943 in Auschwitz umgebracht.
Ein fremdes Leben nicht festschreiben
In Kühns Biografie bleibt vieles offen. Des Autors Ratlosigkeit spiegelt sich in Wiederholungen und Redundanzen, aber mehr noch in der Vorsicht, ein fremdes Leben ganz einfach festzuschreiben und es damit auch festzunageln. Eine Redlichkeit, die rührt. Gleichzeitig ist sein Unverständnis dafür zu spüren, dass das offizielle Deutschland die Dichterin Kolmar immer noch zu wenig würdigt. Das Haus der Chodziesners ist zur Expositur einer Schule verkommen, der Garten zum Spiel- und Sportplatz. Berlin hat eine Straße nach der Dichterin benannt, das zumindest, eine neu angelegte Straße zwischen Potsdamer Platz und Unter den Linden. Mitten im einstigen Zentrum der Macht also, dem Areal von Reichskanzlei und Führerbunker, und jener Stelle, an der Hitlers Leiche verbrannt wurde.
Wenn ich tot bin, wird mein Name schweben
Eine kleine Welt ob der Welt.
Wenn ich tot bin, mag es mich noch geben
Irgendwo an Zäunen hinterm Feld.
Und nun auch in Dieter Kühns Buch: Dort ist es gut sein.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 10. Oktober 2008, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 12. Oktober 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Dieter Kühn, "Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod", S. Fischer Verlag
Links
perlentaucher.de - Gertrude Kolmar
S. Fischer - Dieter Kühn