Das Misstrauen gegen den Kreml bleibt

Fünf Jahre nach dem EU-Beitritt

2009 ist ein großes Gedenkjahr in Litauen: erste urkundliche Erwähnung vor 1.000 Jahren, Annektierung durch die Sowjetunion vor 70 Jahren, EU-Betritt vor fünf Jahren. Doch welche Rolle spielt das kleine baltische Land heute innerhalb Europas?

Am 16. Februar feiern die Litauer und Litauerinnen ihren Unabhängigkeitstag. Vor dem Haus der Signatare in der Altstadt der Hauptstadt Vilnius, wo im Jahr 1918 die Unabhängigkeitsdeklaration unterzeichnet wurde, versammeln sich an diesem eiskalten Februartag tausende Menschen und singen. Zu jedem Glockenschlag werden die Namen der Unterzeichner von damals verlesen.

Freiheit von kurzer Dauer

Am 16. Februar 1918 hatte sich Litauen von Russland unabhängig erklärt. Dem war eine jahrzehntelange politischer und kultureller Unterdrückung vorausgegangen, zeitweise war sogar die litauische Sprache verboten.

Doch die damals errungene Freiheit wehrte nicht lange. Der Hitler-Stalinpakt im Jahr 1939 gab der Sowjetunion letztlich grünes Licht, Litauen neuerlich zu annektieren. Was folgte waren 50 Jahre Sowjetregime - eine äußerst schmerzvolle Geschichte. Zehntausende Litauer und Litauerinnen wurden verhaftet, ermordet oder nach Sibirien deportiert.

Von der Sowjet- in die Europäische Union

Erst mit dem Fall der Berliner Mauer und vor dem Hintergrund von Glasnost und Perestroika kamen die litauischen Unabhängigkeitsbestrebungen, die all die Jahre im Untergrund lebendig geblieben waren, wieder an die Oberfläche. Durch die sogenannte "singende Revolution" der Bewegung "Sajudis" (zu Deutsch: Bewegung) erlangte Litauen als erster Staat die Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

Dass das neuerstandene unabhängige Litauen nur wenige Jahre später einen Teil seiner Souveränität wieder aufgibt und einer neuen Union, der Europäischen Union, beitritt, wird von den Litauern und Litauerinnen nicht als Widerspruch verstanden. 90 Prozent der Menschen haben hier dem Beitritt zur EU zugestimmt. Der 1. Mai 2004 war für alle ein großes Fest.

Wirtschaftsboom und Demokratisierung

Für Petras Austravicius, der damals die Beitrittsverhandlungen mit der EU führte, sind die fünf Jahre EU-Mitgliedschaft seines Landes eine Erfolgsstory: "Dieses Land hat sich innerhalb kürzester Zeit von einen postsowjetischen Strukturen verabschiedet und sich in Richtung westliche Gesellschaft entwickelt, westliche Werte und westlicher Lebensstil wurden rasch übernommen."

Die behäbige Staatswirtschaft - ein Erbe der Sowjetzeit - wurde völlig umgekrempelt und privatisiert. Es folgte eine Art Gründerzeitboom. Politisch hat sich eine stabile Demokratie etabliert, über die trotz parteipolitischer Differenzen ein breiter Grundkonsens in der Bevölkerung herrscht.

Gleichberechtigte Partner?

Für die Litauer und Litauerinnen ist die EU auch deshalb sehr wichtig, weil man sich nun als gleichberechtigter Partner innerhalb der Europäischen Union wahrgenommen fühlt, sagt Petras Austravicius, man sei doch lange genug in Europa an den Rand gedrängt gewesen.

Gleichberechtiger Partner ja - aber natürlich ist man kein Hauptdarsteller auf der europäischen Bühne, dessen seien sich die Litauer bewusst, sagt Außenminister Vygaudas Usackas. Mit seinen 65.000 Quadratkilometern Fläche und seinen 3,4 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen zählt Litauen zu den kleineren EU-Mitgliedern.

Gerade deshalb versucht Litauen, aus seiner geographischen und historischen Besonderheit heraus, ein eigenes Profil innerhalb der EU zu finden, erklärt Außenminister Usackas. Man wolle sich vor allem als Vermittler zwischen den alten EU-Staaten und der postsowjetischen Region positionieren.

Aber ganz anerkannt wird diese Rolle Litauens nicht immer in Brüssel. Litauen sei zu Russland-skeptisch, würde mit alten sowjetischen Parametern das neue Russland von Putin und Medwedjew messen, wird in den Brüsseler Korridoren geargwöhnt.

Die Suche nach dem besseren Leben

Für die Menschen in Litauen bedeutet die Europäische Union in erster Linie Freiheit: Die Freiheit zu reisen und Europa für sich zu entdecken. Das hat gerade bei den jungen Menschen einen sehr hohen Stellenwert.

Die Öffnung der Grenzen hat aber auch eine andere sehr einschneidende Folge gehabt: Schätzungsweise eine halbe Million Litauer und Litauerinnen migrierte nach Großbritannien, Irland und Spanien - auf der Suche nach einem besseren Leben.

Für einen jungen und kleinen Staat wie Litauen, der gerade wirtschaftlich großen Nachholbedarf hat, war das ein herber Verlust an Arbeitskraft und Know How, erklärt der Historiker und Journalist Rimvydas Valatká: "Wir sprechen von 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Die neue Freiheit hätte soviel mehr gesellschaftlich in Litauen bewegen können, aber mit der Öffnung der Grenzen waren auf einmal so viele weg, um eben anderswo mehr Geld zu verdienen."

Der Politologe Mindaugas Jurkinas hingegen kann der Emigrationswelle auch positive Seiten abgewinnen: "Die Leute zahlen zwar anderswo ihre Steuern, aber sie kommen heim, machen hier Urlaub, geben hier ihr Geld aus, senden Geld an die Familien zuhause. Und was vielleicht noch wichtiger ist, sie werden europäischer und diese Werte kommen so leichter zu uns zurück."

Im Zeichen der Krise

Ob aber die Menschen, die Litauen einmal verlassen haben, zurückkehren, ist mehr als fraglich. Bis vor kurzem gab es noch die Hoffnung, dass der Wirtschaftsboom der letzten Jahre mit Wachstumsraten von sieben bis neun Prozent und ständig steigenden Löhnen, ein Anreiz für die Auswanderer sein könnte, wieder zurückzukehren. Doch das dürfte nun vorbei sein.

Die globale Finanzkrise ist auch über Litauen hereingebrochen. Experten rechnen mit einer Rezession von fünf Prozent, die Arbeitslosigkeit werde sich verdoppeln: zehn Prozent sind prognostiziert, so der Wirtschaftsexperte Gitanas Nauseda.

Sturm auf polnische Billigläden

Die litauischen Produkte werden sich drastisch verteuern, das führe zu extremen Absatzschwierigkeiten, vor allem in den Nachbarländern, die sich ja ebenfalls in einer Rezession befinden. Den Spielraum, dem entgegenzusteuern, schätzt Nauseda als gering ein.

Die litauische Währung Litas ist als Vorbereitung auf die Euro-Einführung fix an die europäische Währung gebunden. Die Währungen der Nachbarländer Polen, Weißrussland oder Russland können hingegen jederzeit abgewertet werden, was die Diskrepanz noch verschärft. Schon jetzt stürmen die Litauer und Litauerinnen Geschäfte in Polen, um dort billiger einzukaufen.

Zurück in die Abhängigkeit vom Kreml?

Die anstehenden Energieprobleme werden noch beiseite geschoben. Dass das Atomkraftwerk Ignalina, das derzeit 70 Prozent des litauischen Stroms erzeugt, mit Jahresende abgeschaltet wird, sieht die Regierung nicht als großes Problem an. Litauen könnte einerseits via Polen ans europäische Stromnetz angeschlossen werden oder via Lettland von Schweden aus Elektrizität beziehen. Und schließlich bleibe noch immer die Möglichkeit, die Erdöl- und Erdgasimporte aus Russland zu erhöhen, so Finanzminister Algirdas Semeta.

Der Wirtschaftsexperte Gitanas Nauseda hält es hingegen für gefährlich, sich von Rohstoffimporten aus Russland abhängig zu machen. Das Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn Russland ist in Litauen weiter präsent. So ganz traut man den Machthabern im Kreml nicht, Vorfälle wie in Georgien im vergangenen Sommer oder der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine lassen in Litauen die Alarmglocken schrillen.

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum dem kleinen baltischen Staat Litauen seine NATO-Mitgliedschaft so wichtig ist und warum die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mehr als anderswo auch als Sicherheitsgarantie verstanden wird.

Mehr zu allen Sendungen des Programmschwerpunkts "Nebenan: Litauen" in den kommenden 35 Tagen finden Sie hier.

Hör-Tipp
Journal Panorama, Montag, 9. März 2009, 18:25 Uhr

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