Die Sternschnuppe, die nie verglühte

Martha Argerich in Lugano

Man könne Martha Argerich durchaus mit ihrem Vorbild Horowitz vergleichen, meinte Klavierkritikerpapst Joachim Kaiser. Es gäbe sogar Momente, da sie "fesselnder, entfesselter und unmanierierter spielt als selbst der große Zauberer Vladimir."

Klavierspielereien am See sind in Lugano seit 2002 ein Hauptinhalt des künstlerischen Jahreszyklus von Martha Argerich geworden. Und die spiegeln sich inzwischen auch in einigen Silberscheiben. Ein halbes Jahrhundert Interpretationsgeschichte wurde bisher durch das gewaltige diskophile Oeuvre der argentinischen Pianistin dokumentiert.

Auf zwei zentralen Schienen gibt es interessante Zusammenfassungen. Bei Universal: Eine Box mit acht CDs ihrer DG-Soloaufnahmen in die originale LP-Covers verpackt, und eine ebensolche mit elf CDs mit Klavierkonzertaufnahmen. Die aktuellen letzten sieben Jahre ihres Lugano Festivals spiegeln sich dagegen in mehreren Boxen mit Live-Mitschnitten des EMI-Labels.

Busoni-Siegerin

Spätestens seit dem Sieg beim Busoni-Wettbewerb 1957 war alles klar. Im Alter von 16 Jahren blitzte diese pianistische Sternschnuppe auf, verschwand aber zunächst, bevor sie ein echter Star werden konnte. Martha Argerich kehrte aber bald zurück ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und ist bis heute ein Fixstern am Pianistenhimmel geblieben, wenngleich sie sich in den letzten Jahren mit souveräner Altersweisheit von Virtuosenexzessen fern hält und statt dessen die Kammermusik, die sie immer schon begeistert und extrem kommunikativ gepflegt hat, zu ihrem dominierenden künstlerischen Lebensinhalt gemacht hat.

Viel sagt auch die Repertoirewahl über ihre künstlerische Bescheidenheit aus. Als sich Claudio Abbado als Chef der Berliner Philharmoniker mit einem Beethoven Zyklus vom Wiener Publikum verabschiedete, musizierte er die fünf Klavierkonzerte mit fünf verschiedenen Pianisten. Die Argerich wählte nicht das "Emperor-concerto", nicht das virtuose erste, sondern das zweite in B-Dur, das Mozartischste und technisch am wenigsten anspruchsvollste, das sie auch zweimal für die DG aufgenommen hat.

Enthusiastischer Start

Sensationellen Erfolge hatte sie von Anfang an, von den Kritikern wurde sie sofort mit Enthusiasmus begrüßt, doch - wie Joachim Kaiser schon bald feststellte, "das Unheimliche, ja Unstete an Martha Argerich ist, dass sie eigentlich selten - und am seltenste auf Schallplatten - so gut spielt, wie sie eigentlich spielt, spielen kann, spielen könnte. Ich sehe seit mehr als zehn Jahren gleichsam einen Zickzackkurs zwischen so genannter Krise und phantastischem Gelingen." Soweit Kaiser. Inzwischen hat sich das geändert.

Biografisches

Geboren wurde Martha Argerich am 5. Juni 1941 in Buenos Aires. Die Eltern haben ihr Talent früh erkannt und gefördert. Ihr erstes Konzert gab sie im Alter von vier Jahren, dann arbeitete sie regelmäßig mit Vincente Scaramuzza und war bereits als junges Mädchen eine außergewöhnliche Virtuosin. Als 1955 ihre Familie nach Europa übersiedelte, bekam ihre Karriere den nötigen Aufwind. Unterricht bei Friedrich Gulda, der allerdings nicht wusste, was er einem "Mädel beibringen soll, das schon alles kann", und bei Nikita Magaloff sorgten für Feinschliff und so war sie bald überqualifiziert, um ab 1957 verschiedene Wettbewerbspreise einzuheimsen.

Damit begann die internationale Laufbahn als Pianistin, nein als Tastentigerin in der Horowitz-Tradition. Dabei fühlte sie sich selber nicht als Spezialistin für Geläufigkeit, sondern baute vielmehr ein umfassendes und differenziertes Repertoire auf, das von Bach über Werke von Beethoven, Schumann, Chopin, Liszt, Debussy und Ravel bis Bartók reicht.

Diskographischer Olymp
Als am Ende des letzten Jahrhunderts eine gewaltig dimensionierte 200-CD-Edition über die großen Pianisten des 20. Jahrhundert auf den Markt kam, wurde für Martha Argerich immerhin das Volumen von zwei Doppelalben reserviert. Und in dem Booklet-Text von Bryce Morrison heißt es: Martha Argerichs Entscheidung, sich aus dem Rampenlicht zurückzuziehen, ihr randvolles Programm von etwa 150 Konzerten pro Jahr auf das ruhigere Terrain der Kammermusik zurückzufahren, und damit ihre Solokarriere praktisch zu beenden, hat die Fachwelt konsterniert."

Nun, damals - vor neun Jahren - stammte ihre letzte Soloaufnahme aus dem Jahr 1984 - und das Progetto Argerich in Lugano war noch nicht aus der Taufe gehoben worden.

Dort, in der italienischen Schweiz, ist zwar die Kammermusik, die sie seit jeher viel intensiver gepflegt hat, als ihr Vorbild Horowitz, Martha Argerichs musikalisches Lebenselixier geworden, dennoch, sie betätigte sich gelegentlich auch wieder als Solistin, etwa 2004 in Ferrara, wo sie mit dem Mahler Chamber Orchestra unter Claudio Abbado Beethoven-Klavierkonzerte spielte, oder bei ihrem eigenen Festival in Lugano, wo sie seit 2002 nicht nur gemeinsam mit Freunden und Schülern auftritt, also im Klavierduo, oder mit Streichern in unterschiedlicher Besetzung, wo sie aber auch - beispielsweise im Vorjahr die Schumann’schen Kinderszenen - wie vom Komponisten vorgesehen - ganz alleine gestaltet. Übrigens auch nicht weniger virtuos als früher, wenn man bedenkt, dass sie "Hasche-Mann" jetzt (EMI) sogar zwei Sekunden schneller spielt, als in ihrer früheren, Jahrzehnte alten Aufnahme (DG).

Tastenduette
Am häufigsten ist der Name Martha Argerich im Rahmen ihres Festivals bei Werken für zwei Klaviere auf dem Programmzettel zu finden, gelegentlich, aber weniger oft spielt sie mit Partnern vierhändig an einem Flügel. Gibt es zu wenig Literatur für zwei Klaviere, wird eben bearbeitet. Eine Sonderstellung nehmen da russische Ballettsuiten ein. Sie hat erst kürzlich - gemeinsam mit dem Russischen Pianisten und Dirigenten Mikael Pletnev - Sergei Prokofieffs Cinderella-Ballettsuite in Pletnevs Bearbeitung aufgenommen und die viel ältere - und sehr effektvoll gestaltete - Bearbeitung der Nussknacker-Suite von Nicola Economou oft und gerne aufs Programm gesetzt.

In Lugano hat sie diese Tschaikowsky Klavierduett Version im Jahr 2003 gemeinsam mit Mirabela Dina gespielt, wobei die Beiden eine Behändigkeit auf den Tasten entwickeln, die fast schon an die Sprungskraft von Ballett-Tänzern denken lässt (EMI).

Mikael Pletnev als Dirigent und Komponist
Natürlich inkludiert das Progetto Martha Argerich nicht nur pianistische Kammermusikpartner (beispielsweise den Geiger Renaud Capucon und den Cellisten Mischa Maisky) und 2008 fand schließlich der Russe Mikael Pletnev zu dieser Gruppe von Ausnahmemusikern. Allerdings nicht, um Klavier zu spielen, sondern er dirigierte das Orchester des Radios der italienischen Schweiz und steuerte - als Verbeugung vor dem Gastland - eine eigene Komposition bei, seine "Fantasia elvetica", in der Themen der Schweizer Volksmusik in die Sprache der klassischen Musik umgesetzt werden: für Orchester und vier Solisten - unter ihnen selbstverständlich auch Martha Argerich.

Klassische Klaviersymphonie
Eine der EMI-Boxen enthält ein besonderes Kabinettstück: eine "Symphonie" für zwei Klaviere: Martha Argerich und Yefim Bronfman spielen das Opus 25 von Sergej Prokofjew, die "Sinfonie classique" in einer Transkription von Rikujy Terashima.

Und ganz im Sinne des Meisters würzen die Beiden ihr pointiertes Spiel mit etwas Ironie und mit einem amüsierten Seitenblick zu Papa Haydn. Er ist schließlich der Vater alles Symphonischen. So wird es ein Gruß und wohl auch eine Verbeugung über die Jahrhunderte hinweg - ein wenig augenzwinkernd, witzig und vor allem virtuos.

Hör-Tipp
Musikgalerie, Montag, 20. Oktober 2008, 10:05 Uhr

Links
Progetto Martha Argerich
EMI - Martha Argerich