Eine halbe Million Arme in einem der reichsten Länder
Armut in Österreich?
Pensionistinnen, Alleinerzieherinnen, Menschen, die lange keine Arbeit finden, können sich das tägliche Leben kaum mehr leisten. Aber werden die Armen tatsächlich immer ärmer oder immer zahlreicher? Nein, sagt die Statistik, Jein, die Hilfsorganisationen.
8. April 2017, 21:58
Wann gilt ein Mensch als arm? Wie viel darf jemand gerade noch besitzen, um trotzdem als arm zu gelten? Diese Grenze ist von Land zu Land verschieden. Wer in Österreich als arm gilt, würde in anderen Ländern zu den Top-Verdienern zählen. In Österreich liegt die Armutsgrenze derzeit bei 893 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt. Die Statistik sagt, dass die Zahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, seit Jahren in etwa gleich bleibt. Das widerspricht den Berichten von Hilfsorganisationen. Sie sagen, immer mehr Menschen seien von Armut betroffen.
Die EU hat ein Verfahren entwickelt, um Armut zu messen. Das Messverfahren nennt sich EU SILC, das steht für "Situation on Income- and Living-Conditions". Grundlage für die Grenze zur Armut ist das Median-Haushaltseinkommen. Das ist jenes Einkommen, das die Bevölkerung in zwei genau gleich große Gruppen teilt. Das heißt, eine Hälfte verdient weniger als diesen Wert, die genau gleich große Gruppe mehr. Wer weniger als 60 Prozent dieses Einkommens zur Verfügung hat, gilt als arm.
In Österreich ist die Zahl der Menschen, die unter dieser Grenze liegen, seit Jahren konstant, sagt Matthias Till von der Statistik Austria. Derzeit leben rund 460.000 Menschen unter der Armutsgrenze. Vor dem EU-Beitritt im Jahr 1995 waren es etwa gleich viele. Rund 570.000 Menschen Österreich gelten als armutsgefährdet.
Vom Mittelstand in die Armut
Nach den Erfahrungen von Hilfsorganisationen hat sich die Zusammensetzung dieser Gruppe in den vergangenen Jahren geändert. Nach wie vor sind es viele Mindestpensionistinnen oder Alleinerzieherinnen, die gefährdet sind, in Armut zu leben. Aber mehr und mehr Menschen aus dem sogenannten Mittelstand drohen abzustürzen, berichtet Martin Schenk von der Armutskonferenz. Viele Menschen haben zwar vieles, was den Wohlstand unserer Gesellschaft ausmacht. Wenn ihr Leben aber aus dem Gleichgewicht gerät, etwa durch Scheidung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit, ist der Weg in die Armut oft vorgezeichnet.
Für solche Menschen trifft eher die Definition von Armut zu, die die Soziologin Ursula Till-Tentschert heranzieht. Sie meint, arm sei, wer in einem Zustand leben müsse, in dem Mindeststandards einer Gesellschaft nicht erfüllt seien. Und in einem sehr reichen Land wie Österreich könne ein Mindeststandard schon unterschritten sein, wenn sich jemand kein Auto leisten könne.
Die Reichen werden reicher, die Armen bleiben arm
Wer arm ist, hat es schwer, aus der Armut herauszukommen, sagt Martin Schenk von der Armutskonferenz. Er lässt den oft gehörten Satz "Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer" nicht gelten. Er ersetzt ihn durch die Erkenntnis, "Die Reichen werden Reicher, die Armen bleiben arm." Er meint, viele Menschen könnten mit der Entwicklung in der Gesellschaft nicht mithalten und bleiben auf der Strecke.
Helfen, aber wie?
Wie Menschen wieder aus der Armut herausfinden können, dazu gibt es viele Ansätze. Einer, die Mindestsicherung, ist mit dem Zerbrechen der SPÖ-ÖVP-Koalition gescheitert. Rund 400.000 Menschen hätten 700 Euro monatlich bekommen sollen, unter der Voraussetzung, dass sie arbeitswillig sind.
Selbst unter Leuten aus Hilfsorganisationen ist es umstritten, wie Hilfe gegen Armut am besten zu gestalten ist. Soziologin Till-Tentschert hält jedenfalls nichts davon, wenn sich Betroffene dafür rechtfertigen müssen, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen.
Bei allen Widersprüchen zwischen Armutsstatistik und den Erfahrungen von Hilfsorganisationen scheint eines festzustehen. Angebote für arme Menschen werden stärker genützt als noch vor einigen Jahren. In Sozialsupermärkten, in denen Waren zu kaufen sind, die in anderen Supermärkten übrig bleiben, sieht man längst nicht nur Menschen, die man nach dem ersten Eindruck als arm einstufen würde. Mehr und mehr Menschen scheuen sich nicht zuzugeben, dass sie sich das "normale" Leben nicht mehr leisten können.
Hör-Tipp
Saldo, Freitag 24. Oktober 2008, 9:45 Uhr
Links
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