Erzählungen über das Ende der Liebe
Die Liebe ist doch sehr überschätzt
Brigitte Girauds Geschichten beginnen da, wo andere aufhören. Anders als im Märchen, leben ihre Protagonisten und Protagonistinnen nicht glücklich bis ans Ende ihrer Tage, sondern trennen sich, denn (zu) hohen Erwartungen folgt eben die Enttäuschung.
8. April 2017, 21:58
In elf kurzen Geschichten nähert sich die französische Autorin Brigitte Giraud einem alten und doch immer wieder neuen Thema an: der Liebe. Aber nicht um das Entstehen von Liebe geht es, sondern um das genaue Gegenteil: um das Vergehen der Liebe, um das plötzliche Verlassenwerden oder das langsame Abflauen der einst so heftigen Gefühle, und schließlich auch um die Frage, ob der Tod des Partners tatsächlich das Ende der Liebe bedeuten muss.
"Als Kind oder Jugendlicher glaubt man, dass die Liebe eine notwendige Bedingung ist, um glücklich zu sein", so die Autorin. "Alles vermittelt einem diesen Glauben, alle Märchen, die Prinzessin wartet auf den Prinzen, alle Welt wartet darauf, den Mann oder die Frau zu treffen, der oder die für einen bestimmt ist, der oder die einen glücklich macht, und die Märchen enden in dem Moment, in dem es eigentlich beginnt. Der letzte Satz im Märchen lautet: 'und sie lebten glücklich bis an ihr Ende'. Dieses ganze Leben, das so glücklich sein soll, ist in einem Satz zusammengefasst. Im wirklichen Leben aber erkennt man, dass es eigentlich genau umgekehrt ist. (...) Die Liebe ist zweifellos ein Gefühl oder ein Zustand, der einen in extreme Verzweiflung stürzen kann; sie ist auch ein Zustand, der viele Fragen über sich selbst aufwirft, denn oft erkennt man sich selbst nicht mehr, man versteht nicht, was mit der Beziehung zum anderen geschehen ist, warum man so sehr leidet und warum die Liebe so kompliziert ist."
Verschwundene Gefühle
Brigitte Girauds Geschichten beginnen da, wo andere aufhören. Da überlegt ein Ehepaar, wie es seinen Kindern die bevorstehende Trennung erklären soll, da erzählt eine Frau von einem Rendezvous, das in einer frustrierenden und kläglichen Nacht endet, da schreibt die Gattin eines berühmten Schriftstellers einen resignierten Brief an ihren Mann, in dem sie eine traurige Bilanz ihres gemeinsamen Lebens zieht.
Brigitte Giraud erzählt ruhig, fast beiläufig, ganz ohne Pathos, aber gerade deshalb umso eindringlicher, sie erzählt von verschwundenen Gefühlen und einem Alltag, der die Liebe zerstört, bis sich die Partner schließlich selbst fragen, was sie eigentlich aneinander gefunden haben.
Die Geschichte ist eigentlich schon zu Ende, aber du weißt es noch nicht. Er steht da, vor dem Fenster, und du ärgerst dich, weil er das Tageslicht verdeckt. Du siehst nicht mehr ihn, sondern das Licht, das er daran hindert, ins Zimmer zu fallen. So fängt es an. Er ist da, und seine Anwesenheit stört dich. Du wartest nicht mehr auf ihn. Du kommst abends nach Hause und schaltest das Radio ein. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, nachdem man die Schuhe abgestreift hat. Dann setzt das Schweigen ein. Du weißt nicht, wie es dazu gekommen ist. Seit wann es so geht. Du bist davon ausgegangen, dass es nicht mehr vorkommen würde. Nicht mit ihm, nicht bei dir. Du kanntest das alles schon, die Tücken des Alltags, das übliche Einerlei, die Einkäufe. Es sieht ganz so aus, als würde Waschmittel die Liebe töten.
Enttäuschung ist vorprogrammiert
So lakonisch wie die einzelnen Geschichten ist auch der Titel des Buches. "Die Liebe ist doch sehr überschätzt" stellt die Autorin fest und meint damit: die Erwartungen sind viel zu hoch, sodass man letztlich nur enttäuscht werden kann: "Die Liebe ermöglicht uns, sehr intensive Momente zu erleben, großartige, einmalige, wunderbare Momente, aber sie kann uns auch auf eine Art und Weise leiden lassen, vor der uns niemand gewarnt hat. Wenn man Liebeskummer hat, weil der andere gegangen ist, oder weil man selbst den anderen nicht mehr liebt, was ebenfalls sehr schmerzhaft ist, oder nach dem Tod des anderen, wird man plötzlich sehr zerbrechlich und das wirft die Frage nach der eigenen Identität auf. Plötzlich weiß man nicht mehr, wer man ist."
Beinahe zufällig ist der schmale Band entstanden. Bei der Arbeit an einem Roman suchte Brigitte Giraud Ablenkung im Verfassen kurzer Texte, die sich nach und nach zu einem größeren Ganzen zusammenfügten. "Am Beginn wusste ich nicht, dass ich über das Ende der Liebe schreiben würde", erzählt Giraud. "Ich hatte einen Auftrag von einer Zeitschrift, über einen Anfang zu schreiben und ich schrieb einen Text über ein Ende; ich hatte einen anderen Auftrag, bei dem ich über Widerstand schreiben sollte, ich habe über den Widerstand geschrieben, aber darüber, einem Verlust Widerstand zu leisten, der Trauer zu widerstehen, und plötzlich wurde mir bewusst, dass alle diese Texte einen gemeinsamen Nenner hatten: das Ende von Beziehungen, den Verlust, die Unmöglichkeit, zu lieben. Und als mir das bewusst wurde, wurde es zu einem Buch."
Auf Distanz bleiben
Brigitte Giraud stößt direkt zum Kern ihrer Erzählungen vor, sie hält sich nicht mit Beschreibungen oder Erklärungen auf sondern gewährt einen direkten Einblick in das verwirrte und verstörte Innenleben ihrer Figuren. Tatsächlich kommt ihr diese Art des Schreibens entgegen, so wie sie auch ihre Romane generell kurz hält, auch um eine zu große Nähe zu ihren Charakteren zu vermeiden.
"Es gibt einen Moment, in dem man sehr vertraut mit den Figuren wird, die einen über Wochen oder Monate oder Jahre begleitet haben, und das kann lästig werden", meint sie. "Ich weiß nicht, ob ich das möchte, diese große Nähe zu den Geschöpfen, die es nur in meiner Vorstellung gibt oder die vielleicht Porträts von existierenden Personen sind."
Und so bleibt die Autorin ein bisschen auf Distanz, wenn sie ihre Figuren berichten und lamentieren lässt, wenn sie - wie etwa in einem Text mit dem Titel "Witwen" - mit der Sprache spielt und verschiedene kleine Aspekte des Alltags wie mit einem Scheinwerfer ausleuchtet, oder wenn sie die Geschichte von Marie Trintignant erzählt, die ihr Freund Bertrand Cantat im Zuge eines Streits so schwer verletzte, dass sie ins Koma fiel und wenig später starb. Freilich: Eine Anleitung, um dem Schmerz nach einer beendeten Liebe zu entgehen, ist Brigitte Girauds Büchlein nicht - vielmehr ein nachdenklich-poetischer Beitrag, um manches vielleicht ein bisschen klarer zu sehen.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 26. Oktober 2008, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Brigitte Giraud, "Die Liebe ist doch sehr überschätzt”, aus dem Französischen übersetzt von Anne L. Braun, S. Fischer Verlag
Link
S. Fischer - Brigitte Giraud