Im Sodom des Kapitalismus

Krematorium

"Wäre ich ein Priester, ein Psychologe oder Politiker, dann würde ich die Realität wohl recht positiv darstellen", so Rafael Chirbes. Er ist aber Autor und seine Realität ist düster. In "Krematorium" führt in ein Sodom des Kapitalismus.

"Ich bin Autor und schildere die Dinge so, wie ich sie sehe."

Du liegst auf einem Laken, auf einer dünnen Metallplatte oder auf Marmor. Ich sehe dich vor mir. Sehe dich wieder. Ich hatte dich vergessen.

Rubén Bertomeo, steinreicher Bauunternehmer und Immobilienmogul, ist an einem flirrend-heißen Sommervormittag mit dem Auto an der Costa Blanca unterwegs. Er ist auf dem Weg zum Krematorium. Heute wird der, den er vor sich sieht und doch vergessen hatte, eingeäschert: sein Bruder Matías, der in vielem das Gegenstück war zu ihm, dem Erfolgreichen, Machtbewussten und Korrupten.

So beginnt Rafael Chirbes' Roman "Krematorium": ein Abgesang auf linke Utopien, hochfliegende Pläne und Weltverbesserungsträume, die Matías verkörperte und nicht erst mit ihm begraben werden. "Die Ideologien des 20. Jahrhunderts sind überholt, sie sind besiegt", meint Rafael Chirbes im Gespräch. "Der Roman liefert also eine Abrechnung - auch mit mir selbst, mit den Vertretern meiner Generation. Mich hat die Befindlichkeit der Menschen in unserer Zeit interessiert und die Richtung, in der sich der Kapitalismus entwickelt."

Geldbesessene und Linksintellektuelle

Chirbes' "Krematorium" ist eine Familiengeschichte, die sich zum Zeitroman, ein Zeitroman, der sich zum Gesellschaftspanorama weitet. Matías' Tod und bevorstehende Einäscherung zum Anlass nehmend, geben die Protagonisten in wechselnden inneren Monologen Einblick in ihr Innenleben. Sie räsonieren und blicken zurück und beleuchten sich gegenseitig, die Bertomeos und ihre Bekannten: Tatmenschen und Schöngeister, Erfolgreiche und Frustrierte, Geldbesessene und Linksintellektuelle.

Da ist Monica, Rubéns um fast ein halbes Jahrhundert jüngere Frau, die ihren Körper als ihr Kapital betrachtet und über Sex und Mutterschaft sinniert; da ist der gebrechliche Federico Brouard, ein alternder, inkontinenter Dichter, der einst, wie Rubén und Matías, vor revolutionärem Impetus glühte und heute nur mehr dem Suff ergeben ist; da ist Rubéns Schwiegersohn Juan, ein farbloser Literaturprofessor, der mit einer Biografie über Brouard zu reüssieren hofft; da ist Juans Frau Silvia, die einst den Idealismus ihres Onkels Matías bewunderte, den rücksichtslosen Erfolgswillen ihres Vaters aber hasste, ohne recht eigentlich die Konsequenzen zu ziehen. Und da ist schließlich dieser selbst, der große Boss, der skrupellose Rubén, der seine linke Vergangenheit gegen Geld und Zynismus tauschte.

"Das Leben hatte ihm das auferlegt, was er Realismus nannte, eine Haltung, die keine übertriebenen Schmerz- oder Glücksbezeugungen erlaubt", sagt Silvia über ihren Vater. Sie verachtet diesen Pragmatismus und Realismus, ist es doch einer, der "alles platt macht" und "in dem alten Elend des Landes seinen Ursprung hat, aus den Resten des nie gänzlich überwundenen Franquismus erwächst". Für Rubén, sagt sie, ihren Mann Juan zitierend, gebe es "nichts außer dem Morast des Eigennutzes und dem Rette-sich-wer-kann."

Der Schlimmste von allen

Rubén wiederum steht zu seinem kruden Materialismus - und enttarnt den linken Altruismus eines Matías als eitle Schönrednerei. Matías, sagt er, "wollte sich nie in einen Scheiterhaufen werfen, auch nicht selbst brennen; sein Feuer sprang nur auf Worte über, die er an den Bartheken oder bei geschlossenen Veranstaltungen zu Getreuen sprach, die bereit waren, ihn zu bewundern. (...) Die Worte glühten ein paar Sekunden in der Luft und fielen dann als Asche zu Boden. Es waren nur Strategien des Ich."

"Die Figur, mit der ich selbst am meisten sympathisiere in dem Roman, das ist der Schlechteste, der Schlimmste von allen - weil ich da am meisten gezwungen war, auch über mich selbst nachzudenken", erzählt Chirbes. "Und auch der Leser muss sich bei der Lektüre des Romans, dieser sehr schmerzhaften Analyse meiner Selbst, darüber klar werden, dass die schlechten oder dummen Figuren in dem Roman wohl auch ein Teil von ihm selbst sind."

Selbst- und Enttäuschungen

"Krematorium" kennt keine Handlung, keine Entwicklung, nur trübe Bilanzen. "Krematorium" ist ein Buch der Desillusionierung, der Selbsttäuschungen und Enttäuschungen, das von der Kluft zwischen Prinzipien und Taten handelt, und der, der als erster seine revolutionären Jugendträume dem nüchternen Geschäftssinn opferte, ist der Vitalste, Cleverste und Ehrlichste von allen: Rubén Bertomeo. Er, der die Costa Blanca zubetonierte, der, während sein Bruder als Eremit in der Öko-Nische strandete, mit umweltzerstörenden Touristenburgen seinen Reibach machte, ist im Grunde nicht eine, sondern mehrere Figuren: Macho, Philosoph, Patriarch, Kunstkenner - und das Gesicht eines entfesselten Kapitalismus.

Er spricht über "urbane Revolution" oder die "Architektur des Todes" genauso wie über Sex und Frauen, die, Originalton Rubén, "ihr Hirn weit hinten in der Möse" hätten, über Ortega und Victor Hugo oder die Futuristen genauso wie über die Russenmafia, die Korruption und das Baugewerbe, das "beste Sinnbild für den Kapitalismus". "Wachstum bedeutet Zerstörung... Wachsen heißt, immer weiter wachsen, und Bauen heißt, immer weiter zu zerstören." Eine finstere Vision.

Faszinierend, aber beunruhigend

Rafael Chirbes ist ein Spezialist für spanische Geschichtspanoramen. In "Der lange Marsch" schilderte er die Zeit vom Ende des Spanischen Bürgerkriegs bis zum Ende der Francozeit, in "Der Fall von Madrid" beschrieb er den Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Mit "Krematorium", seinem raffiniert verschlungenen Stimmenmosaik mit dem ständigen Wechsel der Tonlagen, Stile und Perspektiven, ist Chirbes im Hier und Heute angekommen.

Man gewinnt den Eindruck, je älter er wurde und je näher sich der Autor an die Gegenwart heranschrieb, desto düsterer wurde seine Diagnose. Die Linke, mit der er ja durchaus selbst sympathisierte, existiert nicht einmal mehr als Sprechblase - verheizt in den Krematorien einer materialistischen Gesellschaft, die keine Ethik und keine Moral mehr kennt, nur noch den Egoismus des einzelnen, während der Kapitalismus seine zerstörerische Macht feiert. "Das Geld gilt immer mehr als die Ideen, weil es sie in seinen Dienst stellen kann" resümiert Rubén.

"Krematorium" mag eine faszinierende Lektüre sein, geschrieben von einem souverän über seine Mittel verfügenden, nicht zuletzt auch ausgiebig zitierenden Autor, eine beruhigende ist es nicht.

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Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 31. Oktober 2008, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 2. November 2008
18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Rafael Chirbes, "Krematorium", aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz, Verlag Antje Kunstmann