Kunst zwischen Utopie und Allmachtsphantasie
Ein Besuch im Atelier van Lieshout
Das Atelier van Lieshout entwickelt mit seiner oft polemisierenden Kunst neue Welten, die ebenso Gegenentwürfe sind, wie sie sich Mechanismen des Marktsystems zunutze machen. Gründer und Mastermind ist der niederländische Künstler Joep van Lieshout.
8. April 2017, 21:58
Auf 900 Quadratmetern wird in der Werkstatt im Hafen von Rotterdam AVL-Kunst produziert. Joep van Lieshout, der ein bis zwei Mal pro Woche hier ist und sonst daheim zeichnet, bringt seine Ideen als Skizzen mit. "Ich mache sehr viele Zeichnungen", sagt Joep van Lieshout, "die besten bewahre ich auf, und einmal in der Woche schaue ich, welche mir am Herzen liegen." Er deutet auf eine Zeichnung von einem Erdball, dessen Kontinente zerschmelzen und wie dickflüssiges Öl zu Boden tropfen. "Im Moment interessieren mich am meisten Zukunftsszenarien über den Zustand der Erde, über Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelknappheit."
Auf Fachliteratur oder faktische Quellen verzichtet er bei seiner Übersetzung von statistischen Daten in dreidimensionale Objekte. "Ich gehe von meiner Wahrnehmung aus", sagt der Künstler, "und dann überprüfe ich die Daten und Statistiken, ob sie mehr oder weniger stimmen. Notfalls erfinde ich sie selbst", denn er sei Künstler, sagt er, kein Wissenschaftler.
Welten erfinden
Etwas erfinden: Was als Grundmotiv und Antriebskraft künstlerischer Aktivität gewertet werden kann, ist bei Joep van Lieshout besonders augenscheinlich. Seine Erfindungen umfassen alternative Lebensmodelle ebenso wie ziervolle Schusswaffen, totalitäre Organisationsstrukturen ebenso wie knallbunte Einrichtungsgegenstände. Auch seine Privatwohnung ist - bis auf einen Stuhl - komplett mit AVL-Ware eingerichtet. Warum sich mit Vorhandenem begnügen, wenn man sich die Welt nach eigenen Vorstellungen zimmern kann?
Gescheitertes Experiment
Diesbezüglich das geradlinigste und ehrgeizigste Projekt des Atelier van Lieshout war die Gründung eines Freistaates im Jahr 2001: AVL Ville, gelebte Gesellschaftsutopie im Hafen der damaligen europäischen Kulturhauptstadt Rotterdam. Es gab eine eigene Währung und eine Verfassung, in der das Recht auf künstlerische Freiheit verankert ist.
Eine Verkehrsanbindung zur Innenstadt per Pferdewagon, auf dem mit Biertrinken bezahlt wird. Polygamie und Siedlungsfreiheit, Schweinezucht und Gemüseanbau - all das funktionierte immerhin fast ein Jahr lang. Bis das Drängen der Rotterdamer Behörden auf Baugenehmigungen und Gastronomie-Lizenzen zu mühsam wurde. Und bis Joep van Lieshout genug davon hatte, sich nur mehr mit Journalisten und Rechtsanwälten herumzuschlagen.
Bei der endgültigen Auflösung des autarken Freistaats ging es um einfache Lebensfragen, erinnert sich Joep van Lieshout: "Plötzlich war mein Leben 16 Stunden am Tag öffentlich - das hat mir nicht gefallen. Ich wollte wieder meine Kunst machen, also habe ich gesagt: Schluss damit!"
SlaveCity
Die Kunst, die danach entstand, unterschied sich diametral vom Freiheitsgedanken, der die AVL-Arbeiten in den 1990er Jahre prägte: Endzeit statt Utopie. Hatte Joep van Lieshout zuvor mobile Wohnhöhlen entworfen, sind es nun Massenbordelle. Statt bunter Hilfsmittel für ein Leben in Autarkie, sind es Versklavungsapparate.
SlaveCity ist ein stadtgewordenes Konzentrationslager mit Businessplan: 200.000 Einwohner erwirtschaften im Call Center 7,8 Millionen Euro jährlich. Schlaf und Nahrungsaufnahme, Ausscheidung und ihre Wiederaufbereitung, Energiegewinnung, Arbeit, Freizeit und Erziehung - alles ist minutiös durchgerechnet. Autonomie wird als Mittel zu perverser Profitorientierung umgewidmet.
So viel Diskussionsansätze Joep van Lieshouts Projekte liefern, so wenig will der Künstler Stellung beziehen. Die Kunst sei das Manifest, und er wolle der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, sagt er diplomatisch.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 8. November 2008, 17:05 Uhr
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Buch-Tipp
Atelier Van Lieshout, "SlaveCity", Folkwang Museum, Dumont Literatur und Kunst Verlag, erscheint demnächst
Links
Atelier van Lieshout
Kunst im öffentlichen Raum - Wien