Erzählungen von Aravind Adiga

Zwischen den Attentaten

Das Leben einiger Underdogs steht in Aravind Adigas Erzählungen stellvertretend für die Ausweglosigkeit des Einzelnen im indischen Kastenwesen, in das er hineingeboren wird und das von Ungerechtigkeit und Diskriminierung bestimmt ist.

Der indische Autor Aravind Adiga rückt eine indische Kleinstadt fern des touristischen Interesses in den Fokus seiner Erzählungen: Kittur. Dieser im Buch fiktive und dennoch real existierende Ort ist auf keinem Fremdenverkehrsprospekt, sondern bestenfalls auf Google maps zu finden. Ebendort ist auch eines der wenigen Fotos abgebildet: die Bushaltestelle mit einem für europäische Verhältnisse kaum verkehrstüchtigen Überlandbus.

Kittur im indischen Bundesstaat Karnataka, nicht weit von Goa entfernt, dem berüchtigten Hippiestrand der 1970er und 80er Jahre, ist so unspektakulär wie die Protagonisten in Adigas neuem Buch.

Keine Hoffnung

Da ist etwa der Paschtune Ziauddin, ein zwölfjähriger Bub, der als sechstes von insgesamt elf Kindern in einer Landarbeiterfamilie aufwächst und von seinem Vater angewiesen wird, sich endlich Arbeit zu suchen. Und er findet sie: in einer kleinen Teestube in der düsteren und dreckigen Bahnhofshalle von Kittur.

Adiga schildert die Atmosphäre des Bahnhofs so realistisch wie abstoßend - mit streunenden Hunden, die in weggeworfenen Essenstüten schnüffeln, und Ratten, die des Abends aus ihren Löchern kriechen -, dass man sofort Mitleid mit dem moslemischen Jungspund Ziauddin bekommen muss.

Doch es wäre nicht Adiga, gäbe er dem Jungen auch nur einen Funken der Hoffnung, sein Leben radikal verändern zu können. So ist Ziauddin am Ende der Erzählung noch schlechter dran als zuvor.

Ähnlich ergeht es auch Keshava, dem Sohn eines Dorffriseurs, der sich zum ersehnten Job eines Busschaffners hochdient und nach einem Arbeitsunfall alle Privilegien verliert.

Menschen in bitterster Armut

Das Leben dieser Underdogs steht Pate für die Ausweglosigkeit des Einzelnen im indischen Kastenwesen, das von Ungerechtigkeit und Diskriminierung bestimmt ist.

Aravind Adiga, der als Korrespondent für die Zeitschrift "Time" und die "Financial Times" arbeitete, erzählt von Menschen in bitterster Armut, die in der Regel in den Filmen und Romanen dieser Welt keine Erwähnung finden. Er aber macht sich zu ihrem Sprachrohr, zu einem Sprachrohr für jene, die keine Perspektive in ihrem Leben haben.

Land der Kontraste

Wer Indien einmal bereist hat weiß, dass dieser Subkontinent ein Land voller Kontraste ist. "Aber genau dieses Spannungsfeld zwischen Arm und Reich", so Aravind Adiga in einem Interview, "wird die Zukunft Indiens bestimmen."

Der im Vorjahr mit dem "Man Booker Preis" ausgezeichnete Autor erzählt Geschichten, die er in der Zeit zwischen der Ermordung der indischen Premierministerin Indira Gandhi im Oktober 1984 und dem Attentat auf ihren Sohn Rajiv Gandhi im Mai 1991 angesiedelt hat. Daher auch der Titel des Buches "Zwischen den Attentaten".

Sieben Tage in sieben Jahren

Die Ereignisse von Oktober 1984 bis Mai 1991 verdichtet Adiga in sieben aufeinander folgenden Tagen, in denen er den Leser auf eine imaginäre Tour durch die indische Kleinstadt Kittur entführt. Mit jedem dieser Tage taucht der Leser tiefer ein in das soziale Elend Indiens, hofft mit den Protagonisten auf einen Lichtstrahl, der eine positive Wende bringen könnte und wird jedes Mal aufs Neue enttäuscht.

Selbst der Moskitomann George D'Souza, der sich zum Gärtner und schließlich zum Chauffeur einer alleinstehenden, wohlsituierten Dame hocharbeitet, die sogar seine Schwester als Köchin anstellt, ist schließlich zum Scheitern verurteilt.

Er dachte an die sorglose Zeit, bevor er sich an ein Haus und an Madam gefesselt hatte - und ärgerte sich darüber, seine Freiheit verloren zu haben. Er ging früh, schon kurz nach Mitternacht, und sagte, dass er im Haus noch etwas zu erledigen habe. Auf dem Rückweg stolperte er betrunken dahin und sang ein Konkani-Lied. Aber unter der fröhlichen Filmmusik hatte ein anderer Puls zu schlagen begonnen.

Und dieser Puls ist es, der ihn zu Fall bringt. Eine unbedachte Annäherung - das Überschreiten der Grenze zwischen Herrin und Diener - und George D'Souza landet wieder im Staub der Straße.

Die Gedankenwelt der kleinen Leute

Aravind Adiga enthüllt mit seinen Erzählungen die Ohnmacht des einzelnen Menschen im sozialen, kulturellen und religiösen Umfeld, in das er hineingeboren wird. Nicht nur im ausgehenden 20. Jahrhundert haben Geschlecht und Kastenzugehörigkeit das traditionelle Leben in Indien bestimmt, auch heute noch sind sie weitgehend im Alltag präsent.

Aravind Adiga ist nicht nur ein großartiger Erzähler - stilistisch einfühlsam von Klaus Modick übersetzt - sondern auch ein genauer Beobachter. Er scheint in der Gedankenwelt der kleinen Leute zu Hause zu sein und vermittelt ein realitätsnahes und manchmal auch schockierendes Bild Indiens. Mit dunklem Humor und Leidenschaft schildert er eine Welt unbarmherziger Gegensätze und unbeugsamen Lebenswillens.

Die wohl stärksten Bilder, die der Autor von dieser brodelnden Kleinstadt zeichnet, sind jene der nahezu schrottreifen Hindu- und Christenbusse, die sich auf staubigen Landstraßen waghalsige, aber im Grunde sinnlose Duelle liefern. Und auch die verzweifelten, an die Grenze der Kräfte gehenden Versuche eines Fahrrad-Kulis, die auf sein Fahrrad gebundene Last so rasch wie möglich an den Empfänger abzuliefern, ohne dafür auch ein angemessenes Trinkgeld erwarten zu dürfen, gehen unter die Haut.

Empfindsamer Chronist Indiens

Selbstverständlich wären all diese Geschichten bloß singuläre Sozialreportagen geblieben, hätte sie Adiga nicht zu einem literarischen Oeuvre verbunden. Unscheinbare Details bereichern seine Schilderungen dabei ebenso, wie die darin verwobenen Schwierigkeiten und Enttäuschungen seiner Protagonisten.

"Mein eigentliches Ziel ist es, Romane zu schreiben", brachte es Adiga in einem Interview auf den Punkt, "und zwar möglichst über Menschen, die ganz anders leben als ich. Der Journalismus war nur ein Schritt auf dem Weg dahin."

Mit seinem Buch "Zwischen den Attentaten" hat Adiga jedenfalls erneut sein literarisches Talent als ein empfindsamer und leidenschaftlicher Chronist des modernen Indien unter Beweis gestellt.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 7. August 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 9. August 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Aravind Adiga, "Zwischen den Attentaten. Geschichten aus einer Stadt", aus dem Indischen übersetzt von Klaus Modick, C. H. Beck

Links
Aravind Adiga
C. H. Beck - Aravind Adiga