Kultur oder Gene

Berühmte Geistesgefechte

Newton gegen Huygens, oder: Was ist Licht? Margaret Mead gegen Derek Freeman oder: Wird der Mensch durch Kultur oder Gene geprägt? Die Geschichte des geistigen Fortschritts ist auch eine der brillanten Verlierer und zornigen Sieger.

Die Amerikanerin Margaret Mead, einer der bekanntesten und einflussreichsten Anthropologinnen des 20. Jahrhunderts, war eine prononcierte Verfechterin des Kulturdeterminismus. Ihrer Ansicht nach wird das Sozialverhalten des Menschen vor allem durch sein kulturelles Umfeld geprägt. Diese Auffassung Meads beeinflusst die anthropologische und ethnologische Forschung bis in die 1970er Jahre.

Mit ihrem Kulturdeterminismus bekämpft Margaret Mead den von der Eugenik favorisierten Erbdeterminismus. Danach ist der Mensch in erster Linie ein Produkt seiner genetischen Anlagen.

"Wir hatten zu zeigen, dass die Menschennatur außerordentlich anpassungsfähig ist, dass die Rhythmen der Kultur zwingender sind als die physiologischen Rhythmen (...) Wir hatten den Beweis zu erbringen, dass die biologische Grundlage des menschlichen Charakters sich unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen verändern kann," schreibt Margaret Mead bereits als 23-Jährige.

"The Coming Age of Samoa"

1925, ein Jahr später, bricht die junge und noch unerfahrene Anthropologin zu ihrer ersten Feldforschungsreise auf, um Beweise für den Kulturdeterminismus zu sammeln. Ihre Reise führt in die Südsee. Auf der Insel Samoa befragt Margaret Mead ein halbes Jahr pubertierende Mädchen zu ihrem Sexualverhalten und vergleicht es mit jenem amerikanischer Mädchen.

Wenn der Mensch tatsächlich mehr durch seine Kultur als durch seine Gene bestimmt ist, muss die Anthropologin gravierende Differenzen zwischen dem Sexualverhalten auf Samoa und in Amerika feststellen.

Und das gelingt der jungen Anthropologin anscheinend auch. Die Ergebnisse der Feldstudie veröffentlicht Margaret Mead drei Jahre später, 1928, in ihrem berühmt gewordenen Buch "The Coming Age of Samoa". In diesem anthropologischen Bestseller zeichnet Margaret Mead ein fast paradiesisch anmutendes Bild vom Leben der jungen Samoanerinnen, deren Erziehung offenbar ohne jeden elterlichen und sozialen Zwang abläuft.

Keine Vorschriften und freizügige Moral

Die persönliche Freiheit wird nicht durch Vorschriften eingeengt, eine freizügige Moral bestimmt das sexuelle Erwachen der heranwachsenden Samoanerinnen.

Wenn hinter den braunen Dächern der Morgen zu grauen beginnt und die schlanken Palmen sich langsam gegen ein farblos schimmerndes Meer abzeichnen, kehren die Liebenden von ihren Rendezvous unter den Bäumen oder im Schatten vertäuter Kanus heim, damit das Morgenlicht jeden Schläfer an seinem angestammten Platz wecken möge. Zurück bleibt nur das sanfte Donnern des Riffs und das Geflüster der Liebenden.

Margaret Mead schildert die Pubertät auf Samoa als Zeit absoluter Ungezwungenheit und Seelenruhe, die von spielerischen sexuellen Erfahrungen geprägt ist. Dies steht in krassem Gegensatz dazu, wie die Pubertät in den USA erlebt wird: als Zeit heftiger psychische Konflikte und seelischer Turbulenzen. Deshalb lassen sich laut Mead auf Samoa auch keine Neurosen, Vergewaltigungen und eine geringe Kriminalität feststellen. - Margaret Mead hat scheinbar einen eindrucksvollen, empirisch belegbaren Beweis für ihren Kulturdeterminismus vorgelegt.

"Margaret Mead and Samoa"

1983, fünf Jahre nach dem Tod Margaret Meads, veröffentlicht der neuseeländische Anthropologe Derek Freeman dann ein weiteres Buch über Samoa mit dem Titel "Margaret Mead and Samoa." Derek Freemans Buch übt schonungslose Kritik an Margaret Meads Bestseller und löst in der Folge einen der heftigsten Dispute in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts aus. Darin geht es in erster Linie darum, wie der Anthropologe zu seriösen empirischen Daten gelangt.

In seiner Kritik stellt Derek Freeman fest, dass Mead keine bewussten Fehler gemacht hat, aber sich als Anthropologin offenbar von ihrem Wunschdenken leiten ließ. Derek Freeman behauptet, dass Mead 1926 von ihren Informantinnen auf Samoa ausgetrickst und belogen worden ist.

Die Folge sei eine mangelhafte und falsche Datenerhebung gewesen. Derek Freeman kritisiert, dass die mangelhafte Datenerhebung der berühmten Kollegin in der Folge zu falschen Befunden über das Sozialverhalten der Samoaner geführt hat: Meads Buch romantisiere und verzerre deshalb auch das Sexualleben der jungen Samoanerinnen. Die Kernthese des Buchs bezeichnet Derek Freeman als "Phantasiegebilde eines anthropologischen Mythos, der in krassem Widerspruch zu den Fakten samoanischer Ethnografie und Geschichte steht."

Sittenstreng und keineswegs frei

Derek Freemans Samoa ist weit davon entfernt, ein idyllisches Eiland zu sein, auf dem Liebe ohne Aggression zu haben ist. Die von Margaret Mead entworfene Friedfertigkeit der Naturvölker erweist sich nach seinen Feldstudien zumindest auf Samoa als anthropologische Legende.

Freeman beschreibt in seinem Gegenbuch die Sittenstrenge der samoanischen Gesellschaft, weshalb das sexuelle Leben dort nicht als zwangfrei beschrieben werden kann. Es gäbe vielmehr einen Jungfräulichkeitskult auf Samoa, der im krassen Gegensatz zum Konzept der freien Liebe steht, wie es Margaret Mead beschrieben hat.

Ein herber Rückschlag

Letztlich ist Derek Freemans 1983 formulierte Kritik an Margaret Mead vor allem auch eines: ein herber Rückschlag für die Theorie des Kulturdeterminismus. Das Leben auf der Südseeinsel Samoa und das Sozialverhalten seiner Bewohner scheinen sich doch weniger von dem in Amerika zu unterscheiden, als die berühmte Anthropologin es offenbar wahrhaben wollte.

Wird der Mensch also doch mehr durch seine Gene als durch sein kulturelles Umfeld geprägt? - Eine Gretchenfrage bis heute.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 17. November bis Donnerstag, 20. November 2008, 9:05 Uhr

Weitere Geistesgefechte, die in der Sendereihe ausgetragen bzw. geschildert werden:

  • Quantenphysik: Albert Einstein gegen Niels Bohr oder ist der Mond auch dann da, wenn wir nicht hinschauen?
  • Politik und Medien: John F. Kennedy gegen Richard Nixon oder das Geistesgefecht in der Fernseharena.
  • Schach: Bobby Fischer gegen Boris Spasski oder Kalter Krieg auf 64 Feldern
  • Philosophie: Ludwig Wittgenstein gegen Karl Popper. Die Schürhaken-Affäre oder gibt es philosophische Probleme?
  • Psychoanalyse: Melanie Klein gegen Anna Freud oder Das Kind auf der Couch der Analytikerin.
  • Evolutionstheorie: Samuel Wilberforce gegen Thomas Huxley oder großes Affentheater um Darwin
  • Mathematik: Rudolf Taschner gegen Martin Goldstern oder wie viele Unendlichkeiten gibt es? Ein Geistesgefecht in Memoriam Georg Cantor
  • Kosmologie: Steven Hawking gegen John Preskill oder wetten, dass ein Schwarzes Loch jede Information unwiderruflich verschluckt!
  • Künstliche Intelligenz: Deep Blue gegen Garri Kasparow oder kann eine Maschine besser Schach spielen als ein Mensch?