Turbulente Saisoneröffnung
Der neue Mailänder "Don Carlo"
Turbulente Saisoneröffnung am Teatro alla Scala in Mailand: "Don Carlo" unter der Leitung von Daniele Gatti, der auch Kandidat ist für die Muti-Nachfolge als Musikchef. Ebenfalls im Rennen: Riccardo Chailly, Antonio Pappano und Gustavo Dudamel.
8. April 2017, 21:58
Ausschnitt aus dem Mailänder "Don Carlo"
Es hätte der Abend des Daniele Gatti werden sollen: Gattis erste Scala-Saisoneröffnung, am nach dem Mailänder Stadtheiligen benannten "Sant'Ambrogio"-Tag, 7.Dezember, ein Ruck nach vorne für den Dirigenten, der von Beobachtern als der aussichtsreichste Kandidat für die bald zu besetzende Position des Musikchefs am Teatro alla Scala gehalten wird. Oder: wurde? Schon bei den Buhs und dem Zischen, das Daniele Gatti bei seinem Wiedererscheinen am Dirigentenpult nach dem 1. Akt von Giuseppe Verdis "Don Carlo" empfing, war der Traum, die Scala im Triumph zu nehmen, ausgeträumt.
Am Ende des Abends musste sich Gatti dann einem wahren Missfallens-Gewitter stellen - und nicht nur von Seiten der notorischen Störenfriede auf den Rängen, die das Theater schon bei so mancher "inaugurazione" zu einem Hexenkessel gemacht haben. Wer erinnert sich nicht an die letzte Neuproduktion der Verdi-Oper, 1992, Riccardo Muti dirigierte, als dem damaligen Don Carlos, Luciano Pavarotti, an einem kritischen Moment des Werkes die Stimme brach und daraufhin die Hölle los war?
"Sant'Ambrogio" mit Skandal-Begleitung
Erster Eindruck 2008: Es hat sich nichts, aber schon gar nichts geändert seit dem Abgang von Riccardo Muti und seinen Vasallen von der Leitung des Teatro alla Scala, trotz Stéphane Lissner am Intendantensessel. Im Vorfeld der Saison-Eröffnungspremiere: Streikdrohungen ohne Ende, am 7.12. dann: Skandal! Der Protagonist der "Don Carlo"-Premiere, Giuseppe Filianoti, gerade an italienischen Häusern in den letzten Jahren aufgestiegen, zuletzt mit ein paar problematischen Abenden aufgefallen, wird nach der Generalprobe (in der er, wie Zeugen berichten, mit der Rolle gekämpft hat) erklärungslos gekillt, protestiert öffentlich lautstark dagegen - Zitat: "ein Dolchstoß aus dem Hinterhalt" -, bekommt darauf von Stéphane Lissner zu hören, ohne Entschuldigung brauche er nie wieder einen Fuß ins Teatro alla Scala zu setzen.
Dementsprechend aufgeheizte Stimmung beim Premierenabend selbst, für den als Don Carlo dann der Amerikaner Stuart Neill aus dem Hut gezaubert wurde, in den 1990er Jahren für Bellini, Donizetti geschätzt. Keine leichte Aufgabe für den Tenor, der außerdem, korpulent bis zur Immobilität, aber in altmodischste "historische" Kostüme gezwängt, das Gegenteil der "physique du role" mitbrachte... Er meisterte sie achtbar, inmitten eines alles andere als idealen Ensembles, während Giuseppe Filianoti in einer Loge gesichtet wurde.
Sänger-Gemischtwarenladen
Das Ensemble bestand bei den Männern noch aus dem engagierten, optisch rollendeckenden, nur manchmal fahlen Posa Dalibor Jenis und dem rundum überzeugenden Philipp Ferruccio Furlanetto - der ältestgediente Sänger am Besetzungszettel, schon Herbert von Karajan hatte ihm die Partie anvertraut, war diesmal der beste! Die Elisabeth von 2008, Fiorenza Cedolins, ist an der Mailänder Scala lange übergangen worden, hat sich an anderen Häusern zur Bühnenerscheinung und zur Verdi- und Puccini-Diva gemausert - aber die Jahre, die das gedauert hat, beginnt man zu hören. Dennoch: wie ungalant, sie nach ihrer Schlussakt-Arie auszuzischen...
Gegen die hauptsächlich in Italien aktive Sopranistin wurde die Eboli "international" besetzt - und nicht sonderlich phantasievoll: Dolora Zajick, mit großer MET-Geste und dafür bejubelt. Insgesamt: ein Sängerinnen- und Sänger-Gemischtwarenladen, wie er weltweit gang und gebe ist, aber an der Mailänder Scala nicht sein müsste - meinen zumindest "eingeborene" Opernfans.
Finanziell konsolidiert, künstlerisch internationalisiert
Das "System Muti" gebrochen zu haben, ist bisher Stéphane Lissners Hauptverdienst. Es wird nun fast täglich gespielt, die Finanzen stimmen, und während andere namhafte italienische Opernhäuser der "Obhut" der Regionen überlassen werden, behält das Teatro alla Scala auch nach Silvio Berlusconis Föderalismus-Reform seine staatlichen Zuschüsse - als einziges nationales Opern-Prestigeprojekt. Der Preis für die größere Anzahl von Premieren: Identitätsverlust.
"Koproduktionen" lautet das Zauberwort, die künstlerische "Unverwechselbarkeit" der Scala ist dahin, so wird geklagt. (Und die Gegenwart mit einer gloriosen Vergangenheit verglichen, die die wenigsten erlebt haben.) Dennoch: Man mag den Paparazzi-Wirbel, den Aufmarsch der "Promis" hassen, aber wenn er einmal ausbleibt, ist das in Mailand ein Krisensymptom. 2008, vor dem "Don Carlo", wurde die sonst übliche Nationalhymne nicht mehr gespielt: kein Ehrengast im Haus, für den sie erklingen müsste - eine von den Maestri am Dirigentenpult stets extrem ungeliebte Pflicht.
Wer wird neuer Musikchef?
Mit großem Ton, vielen Nuancen, unzähligen Tempowechseln, ausgekosteten Phrasen, bedeutungsschwer, düster lastend, Ritardando-selig, teils auch sängerunfreundlich lautstark - so liebt Daniele Gatti seinen "Don Carlo", so hat er ihn ins Inszenierungs-Vakuum hinein dirigiert. Mit Bühnendampf, roten Nebeln, Personen-Verdopplungen versucht Stéphane Braunschweig seine Nicht-Regie zu camouflieren, "die nun nicht einmal von des Regietheaters Gedanken angekränkelt ist" (der für die Frankfurter Rundschau schreibende Joachim Lange). Und das unter dem mit der "Erneuerungs"-Parole angetretenen Stéphane Lissner!
Wie wird er, ohnehin unwillig, viel Macht abzugeben, nach diesem Abend bei der für Anfang 2009 angekündigten Ernennung eines neuen Musikchefs fürs Teatro alla Scala entscheiden? Daniele Gatti, der seit seinen Debüts bei den Wiener Philharmonikern, an der Wiener Staatsoper und bei den Bayreuther Festspielen viel an Profil gewonnen hat, nach vielen Jahren am Teatro Comunale di Bologna ein Opernprofi, stand bis zum "Don Carlo" in "pole position".
Weitere Kandidaten
Auch Riccardo Chailly würde gern: Seine weiter bestehende Bindung ans Gewandhausorchester Leipzig wäre kein Hindernis, von der Oper Leipzig hat er sich passenderweise bereits getrennt. Oder Antonio Pappano: Eine Arbeitsbiene, am Londoner Opernhaus Covent Garden, aber stets mit einem Bein in Italien, momentan bei der Accademia Nazionale di Santa Cecilia Rom. Und dann ist da noch ein Kandidat, der für Publicity sorgen würde: der noch nicht 28-jährige Gustavo Dudamel, venezulanisches Dirigenten-Wunderkind, seit zehn Jahren verwachsen mit dem Simon Bolivar Youth Orchestra, bald Orchesterchef in Los Angeles. Zwei Opern hat er bisher dirigiert: "Don Giovanni" und "La Boheme", beide bei Stéphane Lissner in Mailand.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 18. Dezember 2008, 15:06 Uhr
Link
Teatro alla Scala