Irish Misery Memoir

Das Familientreffen

In ihrem Roman gelingt es Anne Enright, eine Vielzahl existenzieller Fragen zu behandeln. Das alles vor dem Hintergrund des Elends der irischen Vergangenheit. Die Familie trifft sich aus einem traurigen Anlass: ein Mitglied hat Selbstmord begangen.

Die Fotografien von Oscar Wilde, James Joyce, William Butler Yeats, Brendan Behan und Samuel Beckett sind in Dublin allgegenwärtig. Irland feiert seine Klassiker. Irische Gegenwartsliteratur boomt dagegen vor allem im Ausland. Seit Frank McCourts Roman "Die Asche meiner Mutter" scheint die Welt von Irlands bitterer Vergangenheit, wie sie unter anderem Neil Jordan herauf beschwört, nicht genug zu bekommen. In Irland allerdings, wo die Arbeitslosigkeit in den letzten 20 Jahren um vier Fünftel zurückgegangen und statt Auswanderung Einwanderung angesagt ist, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Zumindest beteuert das die irische Schriftstellerin Anne Enright.

Irisches Elend

Anne Enright bezeichnet die "Irish Misery Memoir" als eigenes Genre, dem sie auch ihren Roman "The Gathering", auf Deutsch "Das Familientreffen", zurechnet. Sie habe nämlich, wie sie selbst sagt, einen Roman geschrieben, der voller Klischees über das Elend der irischen Vergangenheit stecke. Und sie schreibt einen Teil des großen Erfolges dieses Genres in den USA der Nostalgie und Erleichterung jener Leser zu, die diese Misere hinter sich gelassen haben.

Enrights vierter Roman "The Gathering" wurde 2007 mit dem britischen Booker-Preis ausgezeichnet. "Alle kinderreichen Familien sind gleich" heißt es darin. Aber sie sind trotzdem unglücklich, möchte man hinzufügen. Denn das Familientreffen findet anlässlich des Begräbnisses von Liam, des Lieblingsbruders der Erzählerin Veronica statt, der sich 40-jährig mit Steinen in den Hosentaschen bei Brighton ins Meer gestürzt hat.

Zurück bis in die 1920er

Beim Versuch, seinen Selbstmord zu begreifen, tastet sich Veronica in der Geschichte der Hegartys zurück bis in die 1920er Jahre. Während ihre Mutter zwölf Kinder und sieben Fehlgeburten hatte und Veronica ihr vorhalten möchte, "Beine breit und Augen zu. Das hat Folgen, Mammy. Folgen.", hat ihre Großmutter Ada nur zwei Kinder, genau wie Veronica selbst.

Das ist nicht der einzige Grund, warum sich Veronica die Leidenschaft ihrer Großmutter auszumalen beginnt. Es liegt an ungenauen Erinnerungen an Zeiten ihrer Kindheit, die sie mit Liam und anderen Geschwistern bei ihrer Großmutter verbringen musste, weil ihr Mutter zu geschwächt durch eine Fehlgeburt oder zu überanstrengt von einem Neugeborenen war, um sich um alle zu kümmern. Es liegt aber auch an der irischen Geschichte, meint sie.

Fragen aufwerfen und Spuren legen

1925, ein Jahr bevor die Bordelle Dublins von den Legionären Marias geschliffen wurden, verliebte sich Lambert Nugent in Ada Merriman. Sie aber heiratete schließlich seinen Freund Charlie Spillane. "Und nicht nur, weil der ein Auto besaß", wie die Erzählerin schreibt. Warum dann? Es ist die herausragende Qualität dieses Buches, Fragen aufzuwerfen und zu ihrer Beantwortung Spuren zu legen, die einmal plausibel und dann wieder unglaubwürdig erscheinen, fast wie der Mordverdacht in einem Krimi.

Manchmal verfängt man sich auf diesen Spuren in Sätzen, die wie Schlingen ausgelegt sind. Etwa wenn Veronica über Ada und Nugent denkt: "Nicht immer mögen wir die Menschen, die wir lieben. Nicht immer haben wir diese Wahl." Die Lesenden können Ada, Charlie und Nugent, in dessen Haus das Ehepaar zur Miete wohnt, mit den Augen des Kindes Veronica, das dort untergebracht war, und mit den Augen Veronicas, die am Familientreffen teilnimmt, sehen. Und während sie sich vielleicht ihr eigenes Bild ausmalen, werden sie von der Preisgabe eines Schlüsselerlebnisses überrascht.

Auch ein Enthüllungsroman

Das Thema des sexuellen Missbrauches von Kindern in öffentlichen, insbesondere kirchlichen Einrichtungen ist in Irland immer noch präsent. Von 2002 bis 2007 sind 750 Millionen Euro staatlicher Entschädigungen an die Opfer ausbezahlt worden. Es geht aber für Anne Enright auch um den Erinnerungsprozess, und sexueller Missbrauch ist eine Tatsache, an die man sich nur schwer erinnern kann. Schließlich ist er noch ein Klischee, mit dem dieser Roman spielt.

"The Gathering" ist nicht nur eine Irish Misery Memoir, sondern auch ein Enthüllungsroman. Und wie diese hat er eine dunkle Stelle in seinem Innersten, die der Schriftsteller auf überraschende Weise zugänglich machen muss. Im Zentrum des Romans stehen eben nicht die Erinnerungen eines Missbrauchsopfers, sondern die Rückblicke einer Frau, die herauszufinden versucht, warum ihr Bruder immer wieder scheiterte, beruflich wie privat, dem Alkohol verfiel, das Land verließ und sich schließlich umbrachte, während sie - zumindest äußerlich - erfolgreich und schuldenfrei mit ihrer Familie in einem hübschen Haus lebt.

Keine Begründung möglich

In ihrem jüngsten Roman gelingt es Anne Enright, eine Vielzahl existenzieller Fragen zu behandeln, obwohl sie ein ziemlich strapaziertes Thema aufgreift. Im Interview vergleicht sie den Versuch, im Rückblick benennbare Ursachen für etwas Tragisches wie einen Selbstmord zu finden mit der Arbeit des Romanciers. Auch dieser beschäftige sich mit Ursachen, Gründen und schicksalhaften Bestimmungen. Im wirklichen Leben dagegen sei der eine Grund niemals zu finden. Wie wir zu dem geworden sind, was wir sind, begründen wir einmal so und einmal so.

Enrights Roman befriedigt, indem er eine schlüssige Handlung anbietet und beunruhigt zugleich, weil er jede Verbindung, sei sie zwischen Gedanken, Menschen oder Ereignissen, in Zweifel zieht.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 18. Jänner 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Anne Enright, "Das Familientreffen", aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser, DVA