Der "Tiger von Ogliastra"

Sardische Vendetta

Marcello Fois Roman ist eher ein historischer Roman mit kriminellem Hintergrund als ein Kriminalroman. Es geht um den legendären sardischen Banditen Samuele Stochino, der von 1895 bis 1928 lebte und als "Tiger von Ogliastra" in die Geschichte einging.

Was - im Namen der literarischen Dreifaltigkeit von Doyle, Chandler und Hammett - den deutschen List Verlag dazu getrieben hat, dieses Buch mit dem Etikett eines "Kriminalromans" zu versehen, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.

Gut, der gebürtige Sarde Marcello Fois, Jahrgang 1960, hat schon mehrere klassische Krimis mit Kommissaren und Anwälten als Helden geschrieben, einige davon sind auch ins Deutsche übersetzt worden. Aber: "Sardische Vendetta" - im italienischen Original trägt das Buch übrigens den Titel "La memoria del vuoto”, was so viel wie "Erinnerungen an die Leere" oder auch "leere, unnütze Erinnerungen" bedeuten kann - die "sardische Vendetta" also, ist alles andere nur kein Kriminalroman. Nachdem wir aber in Zeiten sich auflösender Formen, Gattungen und Genres leben, wollen wir hier nicht päpstlicher als der berühmte Papst sein. Vor allem auch deshalb, weil Marcello Fois neuer Roman über weite Strecken ein wirklich gelungenes Werk ist.

Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs

Der Stoff ist ein historisch-authentischer. Es geht um den legendären sardischen Banditen Samuele Stochino, der von 1895 bis 1928 lebte und als "Tiger von Ogliastra" - so heißt die bis heute dünn besiedelte ostsardische Provinz - in die Rebellen- und Kriminalgeschichte einging. Leicht verfremdet - es soll ja keine Biografie sein - zeichnet Marcello Fois diese Geschichte auf; begonnen mit einer von Armut und Unterdrückung geprägten Kindheit über Kriegserfahrungen in Libyen und in Venetien während des Ersten Weltkriegs bis hin zu einem zehn Jahre währenden Banditenleben im Untergrund, das 1928 in einer Höhle unweit des Heimatdorfs von Stochino endet.

Es ist Rache für früh erlittenes und immer wieder fortgesetztes Unrecht, das den hochdekorierten Kriegshelden zum gefürchteten Banditen und grausamen Mörder werden lässt. Die Zielscheiben dieses Rachefeldzugs, dieser "Vendetta", sind die "padroni", die Großgrundbesitzer im Dorf und in der Provinz, die Stochino wirtschaftlich und physisch umbringen will.

Historische Moritat

Fois macht aus dieser "Räuberpistole", wie es wenig freundlich in einer Besprechung des Buches hieß, inhaltlich wie formal eine Mischung aus antiker Tragödie und historischer Moritat. Hier gibt es Chorpassagen und Anrufungen, kontrastiert von Kapitelgliederungen, die an den frühen Schelmenroman erinnern, und über allem liegt eine metaphysische Archaik, die zwar gelegentlich nervt, letztlich aber doch das große Ganze ergibt: einen kunstvoll gebauten, sardischen Geschichts- und Dorfroman mit beeindruckenden Exkursionen in die literarische Moderne.

Zu den überzeugendsten Passagen dieser "sardischen Vendetta" zählen nämlich die Schilderungen des ungleich größeren Mordens und Sterbens auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.

Fazit: Als Kriminalroman eine Mogelpackung, als historischer Roman mit kriminellem Hintergrund aber doch lesenswert.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Marcello Fois, "Sardische Vendetta", aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen, List Verlag

Link
List Verlag - Marcello Fois