Zum 75. Todestag von Hermann Bahr

Übermorgen war gestern

Für die einen war Hermann Bahr der geradezu archetypische, sich selbst überkompensierende Provinzler. Für die andern (die allerdings selten geworden sind) war er der eifrig und eifernd seiner jeweiligen Zeit Vorauseilende, der "Mann von Übermorgen".

Im Sommer 1923 zog Karl Kraus in der "Fackel" über das geschäftsfromme Spektakel der Salzburger Festspiele samt ihrem Zeremonienmeister Max Reinhardt im Allgemeinen und über Hofmannsthals eigens für die Kollegienkirche geschriebenes "Großes Salzburger Welttheater" im Besonderen vom Leder:

Seit jener göttliche Regisseur
Dort erschaffen sein Welttheater,
geht in die eigene Kirche nicht mehr
der gute Himmelvater.
(...)
Die Plätze gleich vorn beim Hochaltar
Sind reserviert für die Fremden,
dort kann man am besten auch sehn, wie der Bahr
wechselt die Büßerhemden.


Hermann Bahr, der "Dichterjournalist", der "Mann von Übermorgen", der "Prophet der Moderne", der "jodelnde Freimaurer", der "Polykrates von Ober-Sankt Veit", der "Herr aus Linz", wie ihn sein großer Gegner Kraus am liebsten (und am nachhaltigsten) apostrophierte, der Bahnbrecher, der wahllos bahnbrach und entdeckte und förderte, der die Trivialität zur Philosophie, die Religion zum Gebrauchsgut, die Taktlosigkeit zur Methode und den Bierhumor zum Lustspiel machte, dieser Hermann Bahr war tatsächlich eine öffentliche Figur von geradezu magischer Lächerlichkeit: Wie er in seinen studentischen Anfängen bis zum Exzess (beziehungsweise bis zum Verweis von österreichischen Universitäten) deutschnational und antisemitisch war (nicht ohne kurz zuvor noch den revolutionären Sozialismus gepriesen zu haben), wie er gegen Kirche und Katholizismus so lange zeterte und schwatzte, bis er (1914) beinahe katholischer als der Papst wurde, wie er so lange gegen Wiens Burgtheater intrigierte, bis er endlich, 1918 (wenn auch nur ein halbes Jahr lang) dessen Direktor war, wie sich der Theaterkritiker und Lustspielschreiber Bahr sein Wohlwollen und seine guten Geschäftsverbindungen fürstlich honorieren ließ - das alles ist in dem bösen Diktum von Karl Kraus vom angelegentlichen Wechsel der Büßerhemden am Hochaltar nur angedeutet.

Halbgebildeter Alleswisser

Dem Mann, der schon als Kind "völlig unfähig war, irgendetwas zu lassen, wozu ich mich getrieben fühlte" (H. B.) sagte man alsbald allzu große Empfänglichkeit für Stimmungen aller Art und eine zuzeiten peinliche Publizitätssucht nach (wobei sein Sensorium für Zeitströmungen unbestritten blieb).

Als Prototyp des "Impressionisten" sah er sich selbst, da er gerade den Naturalismus mit viel Getöse "überwunden" hatte. Diskretion und Lautlosigkeit waren seine Sache nicht. Als Inbegriff des halbgebildeten Alleswissers hat ihn Karl Kraus nicht nur in zahllosen "Fackel"-Aufsätzen, sondern auch in der ironischen Vedute "Bahr am Sonntag" verewigt, anhebend mit einem Schillerischen Balladenzitat:

Unter Larven die einzig fühlende Brust,
steht er mitten in irdischer Hatz
und fällt, dieses Treibens unbewusst,
direkt aus dem Rahmen des Blatts.

Intimes, Klatsch und Theaterspott
Und Sport und Welt und Skandal,
Gespräche mit Slezak und mit Gott
Für das Neue Wiener Journal.


Mag freilich sein, dass Karl Kraus - wie Hermann-Bahr-Apologeten bisweilen behaupten - tatsächlich bloß die Modernität der trivialen Medienschleuder Bahr nicht akzeptieren wollte. Und auch die Qualität seiner notorischen Lustspiele (Hermann Bahr hat ihrer etwa 40 geschrieben) wird objektiv nicht dadurch gehoben, dass manche davon zu seiner Zeit erstaunlich erfolgreich waren.

Präzeptor und Bahnbrecher

Indessen reizte der "Herr aus Linz" (wie ihn Karl Kraus schon in seiner frühen Satire auf die "Demolierte Literatur" und später dann alle 37 Jahrgänge der "Fackel" lang beharrlich nannte) nicht nur Kraus zu Kritik und Parodie, bei weitem nicht. So zeithistorisch und zeitpsychologisch bedeutsam sich manches aus seinen schier unendlich vielen Essays, Aufsätzen und Tagebüchern auch heute noch liest, so sehr sind die nachgerade barocke Geschwätzigkeit, der bemüht treuherzige Stil mitsamt Bahrs weltläufiger Redseligkeit wohl nicht zu Unrecht als Überkompensation notorischen Provinzlertums stets belächelt und parodiert worden. Bahr sei, so schrieb Kraus, krampfhaft so zu tun bemüht gewesen, "als ob Weimar und nicht Urfahr die Vorstadt von Linz wäre".

Verdienstvoll bleibt Bahr, der Präzeptor und Bahnbrecher - damals, noch im alten Café Griensteidl, als Sachwalter der Literatenrunde "Jung-Wien" (und enthusiastischer Entdecker des lyrischen Gymnasiasten Hugo von Hofmannsthal), bleibt auch sein vehementes Eintreten für die Secessionsrunde und ihren Skandalmaler Gustav Klimt.

Wenn er nur imstande gewesen wäre, aufzuhören mit dem Bahnbrechen - und wenn die Nachwelt imstande wäre, Hermann Bahr als literarischen Zeitzeugen, vorsichtig, aber doch konsumierbaren Essayisten und, insgesamt, als Phänomen einer aus den Fugen geratenden Klein-Welt zu respektieren - anstatt seinen Ruf durch Ausrufung zum Dichter und bedeutenden Komödienautor zwangsweise zu ramponieren.

Hör-Tipp
Patina, Sonntag, 18. Jänner 2009, 9:05 Uhr

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Projekt Gutenberg - Hermann Bahr