Der Mensch leitet sich vom Baum ab

Letzte Gedichte

Den Beweis, dass Literatur die Welt nicht nur verdoppelt, sondern ihr Ende überlisten kann, hat der deutsch-englische Dichter und Übersetzer Michael Hamburger mit seinen "Letzten Gedichten" erbracht. Hamburgers Lyrik schlägt dem Tod ein Schnippchen.

Wenn ein Dichter stirbt, geht auch eine Welt unter. Der Umstand ist gleichermaßen tragisch wie banal - dasselbe gilt für jeden Menschen; allerdings - nur die Welt der Dichter wird durch eine Welt von Worten verdoppelt. Den Beweis, dass Literatur die Welt nicht nur verdoppelt, sondern ihr Ende überlisten kann, hat der deutsch-englische Dichter und Übersetzer Michael Hamburger mit seinen "Letzten Gedichten" erbracht.

Hamburgers Lyrik schlägt dem Tod ein Schnippchen. Von nicht geringer Bedeutung ist dabei, dass sich Michael Hamburger selbst ein Leben lang als leidenschaftlicher Gärtner (und Züchter neuer alter Apfelsorten) betätigte. Mit Gärtnern als modischem Schnickschnack hat das wenig zu tun, Hamburgers Dichten fällt eher in die Rubrik "Stirb und werde".

Vom Osten und von Norden her
Noch zögerlich das Licht, Bis es sich aufschwingt übers Dach,
Den Horizont im Süden erhellt
Und nackte, Ikonen knospende Stämme färbt,
Glorienscheine um die Schwärze legt,
Die Nadelbäume an ihr Kernholz drücken.

Hymne auf den Garten

"Morgen - Ende Januar", das erste der drei Dutzend zwischen 2004 und 2007 entstandenen Gedichte hebt mit einer Hymne auf den Garten im englischen Suffolk an: Es geht um jene "rätselhafte Jahreszeit - die wir nicht unser nennen könne" - es geht um den Tod; am Bild der mit Schnee überdeckten Primeln und Schneeglöckchen ist nichts Kitsch oder Peinlichkeit; der Schluss ist klar und nüchtern: die Zeit steht still, ohne alle Symbolik und metaphysische Hinterwelt wird konstatiert.

Ich schaue; Stück für Stück an diesem Morgen
Wird der mit Reif bedeckte Rasen grün.

Radikale Selbstbefragung

Ein Grundmotiv von Michael Hamburgers "Letzten Gedichten" ist radikale Selbstbefragung des lyrischen Ichs; sein Grundton - ein Changieren zwischen Gelassenheit und Sarkasmus. In "Alptraum" ätzt der Dichter - an seine posthumen Verleger gewandt: "Sie haben meinen Papierkorb veröffentlicht". Auf pures Understatement folgen abrupte Gedankensprünge in weit zurück liegende Vergangenheiten: Da wird ein Gespräch mit dem längst verstorbenen Vater erinnert; es folgt eine Porträt des alten Dichters als junger Besatzungssoldat. Michael Hamburger, der noch vor der sogenannten Machtergreifung der Nazis Deutschland Richtung England verlassen hatte können, kam kurz nach Kriegsende in britischer Uniform erstmals nach Wien - und besuchte den Prater.

Die Welt nach 1945, die Einsicht in den radikalen Epochenbruch der Totalitarismen, vor allem des Nationalsozialismus - war für Michael Hamburger, der nicht nur Goethe, Hölderlin, Rilke, Brecht, Celan und Enzensberger ins Englische übersetzte - ein fixer Bezugspunkt. Als Verfasser einer großen Studie über die moderne Dichtung - "Wahrheit und Poesie" - formuliert er jene poetologische Maximalformel, deren Gültigkeit auch heute kaum zu bestreiten ist: "Das moderne Gedicht wird experimentell sein - oder es wird nicht sein."

Das zentrale Poem

"Experimentell" bedeutet dabei mehr als konstruktives Spiel mit sprachlichen Zeichen ohne jeglichen außerliterarischen Bezug. In "Domestic / Häusliches", dem zentralen Poem der "Letzten Gedichte" bemerkt das lyrische Alter-Ego dazu:

Du bist kein Fantast, beim Träumen höchstens,
Packst alles Mögliche in ein Gedicht;
Die Aura der Dinge, den Wandel, ihr Verschwinden.


"Alles Mögliche" ist in Hamburgers Fall ein stetiges Umkreisen des "exzentrischen" Hauses mit Worten, das sich längst in "ein Amalgam aus fünf Jahrzehnten" verwandelt hat. Das Gebäude aus der Zeit von Jakob I. steht unter Denkmalschutz - es gibt da, augenzwinkernd, eine "Tudorgarage", einen "Tudorbackofen"; irgendwann sind wertvolle Manuskripte einem Wasserrohrbruch zum Opfer gefallen; das Dach ist mit durchsichtigem Wellblech gedeckt. Unvermittelt hält die die Beschreibung des Ganges durch die ländliche, ein wenig herabgekommene Szenerie mit einer rhetorischen Frage inne:

Lass ich dich hinein?
Bis hierher und nicht weiter, Freund,
Verhalten, angehalten vor dem Ende einer Geschichte, Die weder enden noch beginnen kann…
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Rätselhafte Vollmonde

Elementare Scheu und die Einsicht, dass das "Viel zu Viel" - nicht nur des eigenen - Lebens gar nicht erzählbar ist, lassen den Erzähler draußen, im Garten verharren. Dichterisch wohnet der Mensch, heißt es - aber wie verhält es sich mit einem Garten, diesem Nachspiel zum Paradies, diesem Vorspiel zum Friedhof? Und - was hält die Welt in ihrem Innersten zusammen?

Die Antwort fällt aufzählend aus: Als da sind - "Maulbeerflecken, purpurn auf den Fingern", das Aufblühen einer Primel; ein Blick in die Luft - Gedanken über die Zeit; an einem Weihnachtsabend tauchen vier rätselhafte Vollmonde auf; eine Katze streift durch den Garten, Rauchschwalben nisten in einem Heizungsraum; und - schließlich die "Toten, die im Traum noch leben".

Der Mensch leitet sich vom Baum ab

"Sehen", heißt es einmal, "ist im Wesentlichen / Ein Reagieren auf die Sonne". In "Rundung des Quadrats" entwirft Hamburger eine regelrechte dichterische Anthropologie: der Mensch leitet sich vom Baum ab. Der Garten wird immer mehr zum Schauplatz deutlich kosmischer Vorgänge.

Zwiebel, Apfel, Ei.
Ja, sie kreisen, entstehen
Und vergehen geduldig:
Die geschwungene Unterseite dieser Blaumeise,
die kleine Welle gelben Gefieders,
Die hier in die Stille gefallen ist,
Dieser umgestürzte, verfaulende Stamm,
So langsam ist am Ende unser Kreisen -
Man kann das Auf und Ab nicht unterscheiden
Das Dauernde von der Veränderung.

Der Dichter und sein Automechaniker

Dass Michael Hamburger kein bloß bramabasierender verschrobener alter Mann ist, demonstriert er mit "Air auf einem Schnürsenkel" - ziemlich selbstironisch verhandelt der Dichter mit seinem Automechaniker den Lauf der Zeiten. Am Schluss steht der Befund, es gebe keinen GM mehr, keinen General-Mechaniker, der ein ganzes Auto zu reparieren verstünde.

Mit "Schöner Garten" oder "Schöner Wohnen in freier Natur" haben diese "Letzten Gedichte" trotz der vielen Wolkenformationen, Kürbisse, Blumen und Bäume nichts zu tun. Mythologie und Alltag, Zeit und Natur sind auf vergessen geglaubte Weise ineinander verwoben: zuletzt werden traditionellen Metaphern wie "Reise", "Schiff", oder "Verstummen" immer häufiger.

Wenn alles je Benannte
In Namenlosigkeit soll vergehen,
Mög' es Beflügelte geben, zu
Verbinden Erde, Wasser und Luft.


Vision des Jenseits
Im seinem vermutlich allerletzten Gedicht entwirft Michael Hamburger eine Vision des Jenseits: genauer gesagt die akustische Erscheinung eines "anderen Stückes", das nur noch der Taube zu hören vermag. Das Gedicht folgt dem "nachhinkenden Rhythmus", um davon zu trotten. Selbst wenn Michael Hamburger Prosa spricht - mittlerweile ist alles nur noch Gesang.

Winterabend, East Suffolk

Wie die der Sonne werden unsere Tage kürzer,
Während vor der Sonnenwende zunimmt der sichtbare Mond.
Was auf diesen Flachland-Horizonten verweilt,
Wie stets zu wiederholen, zu erinnern, ist die Dämmerung:
Auf dem südwestlichen von der Flamme zum Schimmer
Setzt sich langsam die Glut
Von Scharlach nach Rosenfarben, Bernstein, schwebt und hebt
sich fort zu einem Streifen Blau,
Tiefer als je ein Sommertag es hielt.
Hängte eine schwarze Wolke da, so leuchtend
Umrandet von scheidendem Licht.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Michael Hamburger, "Letzte Gedichte", aus dem Englischen von Jan Wagner, Uwe Kolbe, Klaus Anders und Franz Wurm, Folio Verlag

DVD-Tipp
Frank Wierke, "Michael Hamburger - Ein englischer Dichter aus Deutschland", in Kooperation mit ZDF/3sat & Goethe Institut, DVD