Vom Kopf aufs Papier

Fernsehen

Eine Studie über Tizians Pinsel schreiben oder fernsehen? Vor dieser Frage steht Toussaints Protagonist. Toussaint parodiert und illustriert in seinem neuen Roman Medien und Gesellschaftstheorien. Das Ergebnis ist einige Fernsehabende wert.

Dem kundigen Leser der Prosa des Thomas Bernhard ist die Ausgangssituation von Jean-Philippe Toussaints Roman "Fernsehen" wohlvertraut: dass nämlich einer an einer ehrgeizigen Studie arbeitet, ja nicht nur daran "arbeitet", sondern dass er die Studie im Kopf bereits fertiggestellt hat, dass er sie also nur mehr auf den vorbereiteten Papierstapel übertragen müsste, dass er sich hierfür - etwa durch Entfernung der potenziell ablenkenden Familie aus Berlin - die allergünstigten Voraussetzungen geschaffen hat - doch leider nicht imstande ist, den ersten Satz der Studie niederzuschreiben und uns stattdessen ein Protokoll seiner Ersatzaktivitäten bietet.

Die Studie, die Toussaints anonymer Ich-Erzähler, kein Autodidakt, sondern ein ausgewiesener Kunstprofessor im Forschungssemester, plant, soll "Der Pinsel" heißen und bezieht sich auf Tizian - oder genauer, auf das Verhältnis von Kunst und Macht, gibt es doch die apokryphe Anekdote, der zufolge sich Karl V. gebückt hätte, um Tizian den titelgebenden Pinsel aufzuheben, den dieser beim Eintritt des Kaisers hatte fallen lassen.

Vom Vecellio zum TV

Die unlösbare Schwierigkeit, die unseren Autor am Beginn seiner Studie hindert, liegt in seiner Unsicherheit über den Namen des Malers. Der heißt bekanntlich Tiziano Vecellio, abgekürzt TV und das führt uns zum wahrhaft subversiven Projekt unseres Autors: sich von nun an des Fernsehens zu enthalten. Auch hier gibt es einen deutlichen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in einer sehr spitzfindig ausargumentierten Weise wird er mehrmals rückfällig und am Ende, nachdem das wirkliche Leben in Gestalt seiner schwangeren Frau und seines Sohn heimgekehrt ist, besitzt er zwei Fernsehapparate und einen Videorecorder.

Das Fernsehen und die Studie, beides Formen des Lebens aus zweiter Hand, haben so einiges gemeinsam: mit der Studie meint man, jederzeit beginnen zu können, mit dem Fernsehen meint man, jederzeit aufzuhören zu können, doch beides geht nicht. Das schmutzige Geheimnis der Protagonisten von Toussaints Roman liegt darin, dass sie vom Fernsehen nicht loskommen, ein gigantischer Widerspruch zu ihrem Selbstbild: Fernsehen - das tun die anderen, wir verfassen Studien über den Grenzbereich von Kunst und Macht. Das ist die kollektive Lebenslüge der Intellektuellen, besser: Fernsehen, das ist die Metapher für den geleugneten Konformismus der Intellektuellen, und gleichzeitig für ihre Lebenslüge.

Einige Fernsehabende wert

Wenn die Protagonisten des Thomas Bernhard an diesen Studien scheitern, dann endet das oft letal. Toussaints Erzähler genießt die Befreiung von Fernsehen und Tizian, er lebt zudem nicht auf einem nasskalten winterlichen Landsitz, sondern im sommerlichen Berlin einige Jahre nach der Wende. Und so zappt er sich durch die unzähligen Programme einer Großstadt, und was er da erlebt, ist um einiges skurriler und abenteuerlicher als das, was einem das Fernsehen so bietet.

Oder hat die vielbesprochene Agonie des Realen schon alles erfasst und organisiert sich unser wirkliches Leben nach den Spielregeln der Dramaturgie des Fernsehens? Ob Toussaint Medien - und Gesellschaftstheorien in seinem Roman parodiert oder illustriert, ist gleichgültig - das Ergebnis Buch ist es auf jeden Fall wert, ihm einige Fernsehabende zu opfern.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Jean-Philippe Toussaint, "Fernsehen", aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurter Verlagsanstalt

Link
Frankfurter Verlagsanstalt - Jean-Philippe Toussaint