...beim Anblick der Nymphe

Der Schreck des Satyr...

Ohne alle zum Roman aufgebauschten Ideologien, ohne Stalin, Zweiten Weltkrieg und Gulag, und ohne allen postmodernen erzählerischen Schnick-Schnack gelingt es Wladimir Makanin, von der Tragödie Russlands in der Gegenwart zu erzählen.

Der alte Mann, ich, saß auf ihrer Bettkante. Eingehüllt in Mondlicht wie in einen Kokon aus purem Silber. Das war doch ein Ding! Der alte Alabin saß auf ihrer Bettkante. Natürlich angespannt. Natürlich furchtsam. Aber der Mond vor dem Fenster inspirierte ihn! (...) Die schwarze Nacht gab plötzlich einen sahneweißen Körper preis. Der alte Mann stöhnt auf. So etwas auf seiner Seite! Eine große füllige, blutjunge Frau...!

Diese Szene wiederholt sich in Wladimir Makanins "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe" ein gutes Dutzend Mal: Besagter Alabin, Pjotr Petrowitsch, schleicht in Vollmondnächten in die Schlafzimmer ihm bekannter und unbekannter Frauen. Ob der somnambule Satyr-Vampyr all die Anjas, Lidas, Witkas, Daschas und wie sie sonst noch heißen mögen einfach vergewaltigt, oder - im Gegenteil - selbst eher irgendwie mysteriös verführt wird, sei dahingestellt. Die Beantwortung der Frage ist Teil des Satyrspieles und bleibt dem Leser/der Leserin überlassen. In den meisten Fällen spielen die "Beglückten" jedenfalls mit. Wird dem "Casanova aus Malachowka" mitunter eine Abfuhr erteilt, oder nützt seine Ausrede, er habe sich nächtens in der Tür geirrt, einmal nichts - der Lüstling trottet immer zufrieden davon - selbst wenn er mitunter eine Tracht Prügel bezieht.

Hauptingredienz Sex

Der slapstickartige Protagonist Pjotr Petrowitsch ist - nach eigener Auskunft - von Beruf "Datschenbewohner". Bekannte haben ihm in der nahe Moskaus gelegenen Sommerfrischler- und Schrebergartensiedlung "ein Achtel" ihres Anwesens zur Verfügung gestellt. Nichtstun und Krieg sind - wie in vielen Büchern von Makanin - die beiden Grundelemente, um die russische Gesellschaft einer literarischen Vivisektion zu unterziehen. Zeitpunkt der Handlung ist das Jahr 1993 - ein im Ausland eher wenig bekanntes Datum, in Russland ein markanter Wendepunkt. Jelzin ließ damals das russische Weiße Haus mit Panzern beschießen und auf dieses Ereignis steuern die zwölf Episoden des Buches hin.

Dem Zeitgeist der 1990er Jahre entsprechend ist die literarische Hauptingredienz Sex. Sex sells. Was noch besser geht ist erzählter, dargestellt Sex, oder Sexualtherapie. Für seine nächtlichen Eskapaden landet Petrowitsch zuerst einmal in der Klapsmühle. Dort witzelt der Starpsychiater Baschalajew herrenreitermäßig: "Klarer Fall. Hoher Mond. Und ein schlafendes Weib!"

Im Lauf einer weiteren Therapie wird "Satyrismus" diagnostiziert - was Makanin essayistisch meisterhaft mit kleinen Exkursen zu antiker Mythologie, zu Nymphen und Marsyas garniert. Petrowitsch, der selbst gerne als "Spanner und schizoider Greis" posiert, treibt es - als Beweis dafür, dass er sich "dem Leben gegenüber nicht ganz adäquat" verhält - sogleich mit der Krankenschwester Raja auf dem Arbeitstisch des Chefarztes.

Schillernder Datschenkosmos

Noch schlechter als Pjotr Petrowitsch, dem "aussterbenden Intellektuellen", ergeht es den anderen Mitbewohnern des schillernden Datschenkosmos. Da ist einmal der Großneffe Oletschka, der kleine Oleg, der aus einem der Kriege des zerfallenden Sowjetreiches traumatisiert zurückgekommen ist. Oletschka ist impotent. Schlaf findet er nur, wenn er sich im Garten in einer Art Schützenloch vergräbt. (Makanin ist nicht nur ein Dostjewskij-Kenner, er bewundert auch Beckett.)

Weiters findet sich da Pjotr Iwanytsch, ein anderer "alter Knacker" und Freund. Mit diesem trinkt Pjotr Petrowitsch abendelang über Politik palavernd Port:"Portwejn". Da ist das liebevolle Ehepaar Mascha und Sascha; arbeitslos geworden befinden sich die beiden mittlerweile im Dauerstreit.

Zweifelhafte Idylle

Schließlich versinkt das Dorf nachts wochenlang in absoluter Dunkelheit und wird von Dieben aus der Nachbarschaft heimgesucht. In der Nähe wird angeblich eine neue Stromleitung verlegt. Um der zweifelhaften Idylle des einstmals Tschechowschen Kirschgartens zu entfliehen, besucht Petrowitsch schließlich seinen alten Freund Goscha in Moskau. Der einstige Dissident, der zwar deutliche Anzeichen von Verfolgungswahn zeigt, ist die einzige Figur des Romans, die zur Ruhe gekommen ist, allerdings um einen hohen Preis: Er sitzt nur noch vor dem Fernsehapparat, schaut den Kanal "Kultura" und frönt vergangenen Werten: Dokus über Picasso, über Eisenstein, der ganze Ramsch sogenannter ewiger Werte.

Seinem eigentlichen Protagonisten vergönnt Makanin kein derartiges "geistiges Nachtasyl". Zurück in der Datschensiedlung finden die sexuellen Aventüren ein Ende, als Petrowitsch auf die 21-jährigen Dascha trifft. Seine üblichen Ausrede, er hab sich wohl im Haus geirrt, weist die Tochter eines hochrangigen Politikers, Vertreterin des neureichen "Mittelstandes" brüsk zurück: "Erzähl keine Märchen, Pjotr Petrowitsch! (...) Schluss - Geh auf die Veranda, Opa. Da steht ein Sofa."

Showdown in Moskau

Der große Showdown erfolgt während der Beschießung des Weißen Hauses, wohin die drogensüchtige Anja auf der Suche nach frischem "Stoff" zu Freunden fährt. Petrowitsch fährt aus welchen Gründen auch immer mit.

Auf dem surrealen Schlachtfeld im Zentrum Moskaus, auf dem die "gelangweilten Panzer gerade zu schießen" beginnen, werden Anja und Petrowitsch verschüttet; er beginnt zum ersten Mal in seinem Leben zu beten. Schließlich liebt er sie zwischen den Verwundeten, um sie - was sonst? - zu "retten". Am Schluss klettert er zum Pinkeln ins Freie und steht mit erigiertem Penis im Kreuzfeuer der Scheinwerfer und laufenden Kameras auf dem Dach des Weißen Hauses - das Ganze wird als Zeichen der Kapitulation verstanden. Petrowitsch ist der Retter.

Parabelhafter Schluss

Es ist Makanins meisterhafter Erzählung geschuldet, dass derartige penetrante Symbolismen nicht zu abstrusem, trashigem Kitsch verkommen - der Autor gewinnt dem Blockbuster sogar noch eine Wendung zu einem parabelhaften Schluss ab: "Mein Generation ist erstickt. Verendet. Es gibt uns nicht mehr", heißt es da über die leitmotivisch immer wiederkehrenden alten Männer, die - als Counterpart zu Petrowitsch - während des Gemetzels zu Hunderten vor dem Weißen Haus im Kugelhagel herumstehen und einfach nur gaffen. Diese schaulustigen alten Männer - die es 1993 tatsächlich gab - werden für den Autor zu einem Symbol für ganz Russland. Damals erfolgte, so Makanin, ein "metaphysischer Ausgleich" zum Jahr 1991, als die Sowjetunion "im schönen Zorn der protestierenden Jungen" untergegangen war.

91 wurde die Staatsmacht zerstört, und 93 erstand sie wieder. Die erwachende Macht setze die alten Männer unter Spannung. (...) Das ist einfach nichts Besonderes. So etwas kommt von Zeit zu Zeit bei allen vor. Das ist einfach ein - Schrecken.

Schrecken - "Ispug'" - lautete denn auch der Buchtitel im Original: zurückhaltend und bedrohlich. Ohne alle zum Roman aufgebauschten Ideologien, ohne Stalin, Zweiten Weltkrieg und Gulag, und ohne allen postmodernen erzählerischen Schnick-Schnack gelingt es Makanin, von der Tragödie Russlands in der Gegenwart zu erzählen. Was diese Welt zusammenhält ist: Angst. Am Lachen, das der Roman oft genug auslöst, kann man sich als Leser recht leicht verschlucken, aber: Vermutlich wäre jeder andere Autor als Wladimir Makanin genau daran erstickt.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Wladimir Makanin, "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe", aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke, Luchterhand Literaturverlag

Link
Luchterhand - Wladimir Makanin