Einst und heute
Vilnius
Vilnius war im 19. Jahrhundert eine der multikulturellsten Städte Europas. Auf deutsch und russisch hieß die Stadt Wilna, auf weißrussisch Wilnja, die Polen sagten Wilno und die Juden Wilne. Der Zweite Weltkrieg führte zu einem Bevölkerungsaustausch.
8. April 2017, 21:58
Die litauische Hauptstadt Vilnius war im 19. Jahrhundert, wie es der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz formulierte, die "geistige Schatzkammer der europäischen Judenheit". Hier erschienen Jahr für Jahr Tausende hebräische und jiddische Bücher, hier befand sich auch die größte jüdische Bibliothek Europas.
Die Maler der Ecole de Paris haben hier in der Zarenzeit in der von Iwan Trutnev gegründeten Kunstschule studiert, also Jaques Lipschitz, Chaim Soutine; auch Marc Chagall war hier. Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, die Angaben sind unterschiedlich, ein Drittel oder sogar nahezu die Hälfte der Wilner Bevölkerung jüdisch. Als "Jerusalem des Nordens" wurde die Stadt bezeichnet.
Litvaks
Die jüdischen Einwohner Litauens und des angrenzenden Weißrussland wurden "Litvaks" genannt. Litvaks waren der Esperanto-Erfinder Ludwig Zamenhof, der Philosoph Emanuel Levinas, der französische Literat und zweifache Goncourt-Preisträger Romain Gary, der Violonist Jasha Haifetz und der israelische Premierminister Menachem Begin.
Litvaks waren die Vorfahren der Musiker Philipp Glass und Leonard Cohen, des russischen Oligarchen und FC Chelsea-Besitzers Roman Abramowitsch sowie der israelischen Politiker Ehud Barak und Benjamin Netanjahu.
Im Wilna der Zwischenkriegszeit gab es jiddische Zeitungen und Zeitschriften, die Künstlervereinigung "Jung Wilne" und die Schauspielvereinigung "Vilner trupe", es gab die Berufsschule mit dem Namen "Hilf durch Arbet" und das YIVO, das "Yidisher visnshaftlekher institut". Wenn du reich werden willst, musst du nach Lodz, wenn du aber weise werden willst, nach Wilna gehen, so lautete ein jüdischer Spruch damals, denn die Litvaks waren ein Synonym für Wissbegierde.
Die jüdische Bevölkerung wurde nahezu ausgelöscht
Doch dieser Teil der Geschichte wurde in Vilnius gleich zweifach zerstört: Die Nationalsozialisten und ihre litauischen Helfer haben während des Zweiten Weltkriegs die Wilner Juden vernichtet - in einem Maß, wie in keinem anderen von der Deutschen Wehrmacht besetztem Land.
Bevor die Endlösung in den Vernichtungslagern erst richtig begann, waren schon 80 Prozent der litauischen Juden in Massenerschießungen umgekommen. Und während der sowjetischen Besatzung des Landes wurden die verbliebenen baulichen Spuren dieser Menschen Großteils beseitigt.
Selektive Geschichtswahrnehmung
Auf dem Platz der früheren Synagoge befindet sich heute ein Kindergarten mit Spielplatz, der alte jüdische Friedhof nördlich des Neris-Flusses wurde zur Zeit Sowjetlitauens planiert und darauf eine Sporthalle errichtet. Jetzt, im seit 1991 unabhängigen Staat, wird der jüdische Anteil an der Stadtgeschichte von den meisten Einwohnern auch nicht besonders gewürdigt.
"Die Haltung der Litauer gegenüber der Geschichte von Vilnius ist manchmal recht selektiv. Für die Mehrheit hat das jüdische Erbe der Stadt eigentlich überhaupt keine Bedeutung", sagt der Historiker Darius Staliunas.
Memento für eine zerstörte Kultur
Heute gibt es in Vilnius wieder eine kleine jüdische Gemeinschaft, es gibt die Schalom-Alejchem Schule und das Jüdische Museum. Und an der Wilner Universität wurde das Yiddish Vilnius Institut errichtet, eine der wenigen Einrichtungen auf der Welt, wo die Sprache noch gelehrt wird.
Im Jüdischen Museum kann man auf einer Riesenwand die Fragmente des Werkes "Der Thron des Königs Salomon" von Aaron Chait sehen. Es war ein naives Werk der Volkskunst, eine große Raumkomposition mit Holzschnitzereien, metallenen Leuchtern und mehr als 200 Puppen.
Das, was davon geblieben und heute zu betrachten ist, wirkt paradigmatisch: wie ein Riesenpuzzle, von dem die meisten Steine unwiderruflich verschwunden sind und von dem man nur mehr ganz wenige verbliebene Stücke wahrnehmen kann. Es ist, sagt Direktor Markas Zingeris, ein Memento für eine zerstörte Kultur.
Mehr zu allen Sendungen des Programmschwerpunkts "Nebenan: Litauen" in den kommenden 35 Tagen finden Sie hier.
Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 11. März 2009, 19:05 Uhr
Links
Jüdisches Museum Vilnius
Zeitschrift "osteuropa" - Impulse für Europa - Tradition und Moderne der Juden Osteuropas
Jüdisches Institut Vilnius
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