Toleranz in einer grenzenlosen Welt

Die Eingewanderten

Leicht haben sie es nicht, die Migranten der zweiten und dritten Generation, und die der ersten schon gar nicht. Über Toleranz in einer grenzenlosen Welt macht sich der Amsterdamer Soziologe Paul Scheffer in seinem aktuellen Buch Gedanken.

für eine neue Immigrationsdebatte, die Schluss macht mit der Ideologie des Multikulturalismus als eines friedvollen Nebeneinanders und Migration nicht allein als kulturelles, sondern soziales Problem begreift. Sein Buch "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt" (das auch das Beispiel des Fouad Laroui zitiert) greift dabei Aspekte seines vieldiskutierten Essays auf, der vor acht Jahren erschien und den Titel trug "Das multikulturelle Drama".

"Das multikulturelle Drama, das sich abspielt, ist die größte Bedrohung für den Frieden", hieß es da - vier Jahre vor der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh durch einen jungen Islamisten.

"Damals sah ich vieles, das nicht gut ging, und ich wollte das thematisieren und sagen, wir leben mit einer falschen Toleranz, die eigentlich Indifferenz ist. Wir schauen auf die andere Seite, wir stellen nicht genügend Fragen", so Scheffer heute.

Entfremdung und ihre Folgen

"Die Geschichte der Immigration ist die Geschichte einer Entfremdung und deren Folgen", zitiert der Autor den von ihm sehr geschätzten amerikanischen Historiker Oscar Handlin, der 1952 seine berühmte Einwanderer-Studie "The Uprooted" veröffentlichte. Diese Geschichte der Immigration nimmt nun auch Scheffer in den Fokus - und zeigt ein breites Panorama. Untersucht werden aktuelle Immigrationsbewegungen (in den Niederlanden, Deutschland oder Großbritannien) ebenso wie die Folgen der europäischen Kolonialisation, die Geschichte des Einwanderungslands Amerika, Probleme mit dem Islam oder die Vision einer offenen Bürgergesellschaft.

"Katholische Migranten waren im protestantischen Amerika lange Zeit überhaupt nicht willkommen", erzählt Scheffer. "Weil man damals, in der zweiten Hälfte des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika ein Selbstbild hatte - exklusiv protestantisch. Eigentlich konnte es nicht sein, dass katholische Migranten loyale Amerikaner wurden. Das hat lange gedauert, bis 1960. Bis der erste amerikanische katholische Präsident John F. Kennedy gewählt wurde."

Phase des Konflikts

Die Phase, die Scheffer die "Phase der Vermeidung" nennt, der Vermeidung von Konflikten zugunsten einer falsch verstandenen Toleranz und Multikulturalität, die ein Miteinander predigte und ein Nebeneinander praktizierte, diese Phase sei ein für allemal vorbei. Längst befänden sich europäische Einwanderungsländer in der Phase des Konflikts. Und das sei gut so.

"Der Konflikt ist ein Zeichen der Integration", glaubt Scheffer. "Ich war gestern in Pankow, einem Bezirk in Berlin, da gab es eine Bürgerinitiative gegen einen Moscheebau", so Scheffer. "In einem Land mit Religionsfreiheit kann man nicht diskutieren über die Frage, ob Muslime frei ihren Glauben praktizieren können. Natürlich können die das. In Rotterdam wird eine Moschee gebaut, fünfzig Meter hoch, die ausdrücklich auch die Ambition hat, die Skyline von Rotterdam mitzuprägen. Das ist gut so. Damit fängt es an. Aber was in dieser Moschee in Rotterdam oder Pankow gesagt wird, darüber kann man diskutieren. Und man soll auch die muslimische Gemeinschaft herausfordern und sagen, hör mal, die Art und Weise, wie man mit Glauben umgeht in dieser Gesellschaft mit Religionsfreiheit, wird eine andere sein, als in einer Gesellschaft, wo Islam ein Quasi-Monopol hat. (...) Sie können nicht hier leben mit der Idee, sie haben ein heiliges Buch - und das ist unantastbar."

Tabus hinterfragen

Paul Scheffer ist seit 30 Jahren Sozialdemokrat - und wird doch in den Medien immer mal wieder als "konservativ" abgestraft. Ein Missverständnis, an dem er nicht ganz schuldlos ist. Die Migration habe unsere Gesellschaft nicht offener gemacht, schreibt Scheffer.

Migranten seien "zum unbeweglichsten Teil der Bevölkerung geworden", sie richteten sich ein in "subventionierter Isolation", sie fühlten sich als Opfer. Sie müssten sich fragen, "warum sie Haus und Herd verlassen haben. Wie kommt es, dass die Länder, in denen sie einst lebten, so schlecht dastehen?"

Das klingt, aus dem Zusammenhang gerissen, weniger sozialdemokratisch als rechtspopulistisch. Dabei geht es Scheffer doch vor allem darum, Tabus zu hinterfragen - das Tabu der Ausländer-Kritik, der Toleranz-Kritik, der Multikulturalismus-Kritik. Letztere rückt bei ihm ins Zentrum. Scheffer installiert einen freilich recht einseitigen Begriff von Multikulturalismus - für ihn gleichbedeutend mit interesselosem Nebeneinander, Unverbindlichkeit, Passivität, Angst vor Reibungen und Philosophie der Ohnmacht -, um sich dann an dessen Demontage abzuarbeiten:

"Ich glaube, dass Multikulturalismus nicht nur in normativem Sinn unsere Gesellschaft nicht beschreibt, sondern auch im empirischen Sinne die Realität der Immigration nicht gut beschreibt. (...) Die Kinder von Migranten leben überhaupt nicht in einer marokkanischen oder türkischen oder somalischen Gemeinschaft. Ihre Realität ist viel komplizierter, viel vielschichtiger als die Idee des Multikulturalismus, die eigentlich sagt, wir leben alle auf Inseln. Ich glaube nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo es Inseln gibt."

Chance zur "Selbsterforschung"

Scheffer verlangt ein neues Nachdenken über Immigration und Versorgungsstaat, über Immigration und Religion, fordert eine neue Bürgerschaftskultur, eine andere Bildungs- und Familienpolitik, ausgehend immer vom Grundsatz der Gleichheit. Und begreift die Migrationsdebatte als Chance zur "Selbsterforschung", wie er sagt, als Herausforderung, dem Ideal der offenen Gesellschaft ein Stück näher zu kommen.

Viel konkreter wird er nicht. Wie eine neue Einwanderer-Debatte und -Politik auf den Weg gebracht werden kann, wie man aus der Phase des Konflikts in die der Akkomodation oder Integration gelangen kann, bleibt offen.

"Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt" ist mit seinen 540 Seiten ein sehr ausführliches Buch, das sich aus geschichtlichen und soziologischen, aus kulturanthropologischen und literarischen Quellen speist, zitatenreich, länderübergreifend - und doch auch unbefriedigend. Zu viele wohlfeile Appelle, allgemeine Empfehlungen und vage Verlautbarungen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Paul Scheffer, "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt", aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor Seferens, Andreas Ecke, Heike Baryga und Gerd Busse, Hanser Verlag