Die Karrieren des Romain Gary

Das Chamäleon

Was er sei und was er geworden sei, könne man in seinen Büchern nachlesen, pflegte er stets in Interviews zu sagen. Was allerdings nicht so einfach ist, denn kaum ein Autor hat den Identitätswechsel so beherrscht, wie der in Vilnius geborene Romain Gary.

Ein Autor legt sich in seiner Pariser Wohnung ins Bett, steckt sich den Lauf einer Smith and Wesson, Kaliber 38, in den Mund und drückt ab. Im Abschiedsbrief drückt er sich so unklar aus, dass man nicht sagen kann, ob er beim Abfassen verzweifelt war, wütend, traurig - oder ob er selbst seinen Selbstmord noch als Scherz betrachtete.

"Kein Zusammenhang mit Jean Seberg", stand da zu lesen, "die Liebhaber gebrochener Herzen sind hiermit freundlich aufgefordert, sich anderswo umzusehen".

Der Tod des Schriftstellers, Filmregisseurs, Diplomaten und Weltkriegshelden Romain Gary war nicht nur außergewöhnlich wie sein ganzes Leben, er löste auch eines der großen Rätsel des Literaturbetriebs, an dessen Auflösung Scharen von Journalisten, Kritikern und Wissenschaftern in den späten 1970er Jahren gescheitert waren: Wer ist Émile Ajar?

Oscar-gekrönte Verfilmung

Mit seinem zweiten Roman "La vie devant soi" schafft der 35-Jährige im Jahr 1975 die literarische Sensation: Das Buch erhält den Prix Goncourt, verkauft sich weltweit millionenfach und wird 1977 unter dem Titel "Madame Rosa" mit Simone Signoret in der Hauptrolle verfilmt. Der Film wird mit einem Oscar ausgezeichnet.

Das Seltsame daran ist nur: Niemand kennt den jungen Autor aus Nizza, der auf dem Waschzettel seines 1974 erschienenen Romandebüts "Gros-Calin" über sich behauptet: "Ich habe meine Bücher alle in Kliniken geschrieben, auf Anraten der Ärzte, die mir sagten, dies hätte für mich einen therapeutischen Effekt. Zuerst rieten sie mir, Bilder zu malen, aber das hat zu nichts geführt."

Gerüchte entstehen

Auskünfte über Émile Ajar erhält man nur über Romain Gary. Der junge Mann, erzählt er, habe als Medizinstudent bei einer jungen Frau aus Paris eine Abtreibung durchführen wollen und sie dabei getötet. Um dem Gefängnis zu entkommen, sei er nach Brasilien geflohen.

Als Émile Ajars Roman "La vie devant soi", die Geschichte einer Beziehung zwischen dem 14-jährigen arabischen Waisenjungen Momo und der Auschwitz-Überlebenden Madame Rosa in Paris, mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wird und vom Autor nach wie vor nur bekannt ist, was Romain Gary über ihn erzählt, beginnen in den Medien unterschiedliche Gerüchte zu kursieren.

"Epische Schwindsucht"

Ähnlich wie im Falle Thomas Pynchons hält man Émile Ajar für ein Pseudonym. Von Raymond Queneau etwa. Oder von Romain Gary. Einige Kritiker stützen diese These, indem sie auf sprachliche Ähnlichkeiten zwischen beiden Autoren hinweisen. Andere behaupten Gary sei als Schriftsteller am Ende. Es sei undenkbar, dass er hinter diesen Büchern stehe.

In der Tat gilt Romain Gary für einige Kritiker als Schriftsteller, dessen Zeit abgelaufen ist. Das liegt weniger am konventionellen Stil seiner Romane und Erzählungen, als vielmehr an seiner öffentlich zur Schau gestellten Gekränktheit ob des Erfolgs einer formal orientierten und sprachspielerischen Literatur, personifiziert durch Alain Robbe-Grillet, Michel Butor und Nathalie Sarraute. Das Erzählen, das Fabulieren sei aus der Mode gekommen, schimpft Gary. Er spricht von epischer Schwindsucht. Doch keiner von ihnen ist so erfolgreich wie Émile Ajar. Und dessen Geheimnis wird erst nach Romain Garys Selbstmord gelüftet. Dass es sich nämlich in der Tat um ein und dieselbe Person handelte. Am Ende seines Lebens war er noch einmal auf die Überholspur geraten.

Man könnte auch sagen: Er hat seine Mutter nicht enttäuscht, die noch in Warschau Ende der 1920er Jahre ihrem Sohn prophezeit: "Du wirst berühmt sein wie Victor Hugo, wie Chateaubriand, wie Gabriele d'Annunzio. Zumindest aber wirst du französischer Botschafter."

Biotop Nizza

1927 lassen sich die aus Vilnius stammende Nina Kacew und ihr 13-jähriger Sohn Roman in Nizza nieder, zu jener Zeit ein Zentrum des russischen Exils: ein Biotop von Realitätsverweigerern aller Art, von Hochstaplern, Schattenexistenzen, Übertreibungskünstlern. Hier sollen die Armut und die Kleinheit der Verhältnisse Vergangenheit sein. Und der Name, Kacew, dieses Stigma slawischer Herkunft.

Roman denkt sich Pseudonyme aus, die er als zukünftiger französischer Schriftsteller zu verwenden gedenkt. Doch Romain Kacew, wie er sich jetzt nennt, scheitert. Vorerst.

Eine neue Chance und ein neuer Name bringt für den jungen Zuwanderer der Krieg. Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 meldet er sich bei den von Charles De Gaulle befehligten Freien Französischen Streitkräften in London. Er wird zum Piloten ausgebildet, fliegt Bombereinsätze in Afrika, avanciert zum Staffelhauptmann und nennt sich Romain Gary de Kacew. Wobei Gary eine Reverenz an den Filmschauspieler Gary Cooper ist, ein Held, ganz nach dem Geschmack der Mutter.

Französischer Kriegsheld

In der Tat wird er mit dem Croix de la Liberation ausgezeichnet: ein französischer Kriegsheld. Dieser hat seine Zeit bei der Luftwaffe jedoch hauptsächlich dem Verfassen seines ersten Romans "L'Education Européenne" gewidmet, der 1945 erscheint. Der Roman handelt von einem 14-jährigen polnischen Buben, der während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg einer Widerstandsgruppe beitritt und im Kampf gegen die Macht heranwächst. Albert Camus hält das Buch für den besten Roman über die Resistance.

Es folgen Jahre im diplomatischen Dienst, eine glamouröse Ehe und schließlich der Roman, der ihn unabhängig macht: "Les racines du ciel", ein frühes Manifest gegen die Umweltzerstörung in Afrika.

Dem Leben verweigert

Als Gary 1962 ein zweites Mal heiratet, nämlich die amerikanerische Schauspielerin Jean Seberg, ist der Schriftsteller Dauergast in den Klatschspalten.

Die Ehe verläuft nicht glücklich. Die Schauspielerin erlebt nach dem frühen Erfolg mit Godards "Außer Atem" und nach der Geburt des Sohnes Diego ein Karrieretief. 1979 wird sie tot auf dem Rücksitz ihres Autos gefunden. Der Blutalkoholwert von acht Promille lässt Zweifel an der Selbstmordthese aufkommen, die Umstände von Jean Sebergs Tod werden allerdings nie geklärt.

Romain Gary verwindet diesen Tod nicht, auch wenn er ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Er werde sich dem Leben verweigern, sagt er. Und er sagt auch: "Wenn meine Mutter noch am Leben wäre, wäre das alles nie passiert". Am 2. Dezember 1980 macht er seinem Leben ein Ende.

Hör-Tipps
Tonspuren, Freitag, 13. März 2009, 22:15 Uhr

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Link
Aux Amis de Romain Gary (französisch)

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