In Sicherheit?
Tschetschenen in Österreich
Mit ihnen werden Wahlkämpfe und Politik gemacht, aber wie sie wirklich leben, weiß kaum jemand: tschetschenische Flüchtlinge in Österreich. Mehr als 20.000 Tschetschenen sind in den letzten Jahren vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Österreich geflüchtet.
8. April 2017, 21:58
In der Volksschule Friesgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk gibt es für die tschetschenischen Kinder einmal pro Woche Unterricht in ihrer Muttersprache. "Die Kinder verstehen nicht wirklich, was passiert, sie sehnen sich nach ihrer Heimat, aber die Erwachsenen haben Angst davor zurückzukehren" erzählt die Lehrerin. Denn in Tschetschenien herrscht Krieg, ausgebrochen lange vor der Geburt dieser Kinder.
Zahlreiche Kriegsgenerationen
Mehr als 20.000 Tschetschenen und Tschetscheninnen sind seit Ende der 1990er nach Österreich geflüchtet. Vor einem Konflikt, der mit Unterbrechungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts besteht und mit unbeschreiblicher Brutalität geführt wird. Schon das russische Zarenreich hatte begonnen, die Region zu erobern und war dabei stets auf erbitterten Widerstand gestoßen.
Der sowjetische Diktator Josef Stalin ließ im Jahr 1944 den Großteil der Tschetschenen und Tschetscheninnen in Viehwaggons stecken und nach Kasachstan deportieren. Erst nach seinem Tod durften die Überlebenden wieder in ihre Heimat zurückkehren. Die Wunden der Deportation sind bis heute tief
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 erklärte sich Tschetschenien als erste autonome Teilrepublik Russlands einseitig für unabhängig. Um andere Teilrepubliken abzuschrecken, schickte der damalige Präsident Boris Jelzin die Armee nach Tschteschenien, die Hauptstadt Grosny wurde dem Erdboden gleich gemacht, Zehntausende Menschen getötet. Trotzdem konnten die Rebellen nicht geschlagen werden.
1999 marschierte Russland erneut in Tschetschenien ein. Seither stehen sich russische Truppen und verschiedene pro-russische Milizen unter der Führung des Präsidenten Ramzan Kadyrow auf der einen Seite, und Rebellengruppen, zum Teil auch untereinander verfeindet, auf der anderen Seite gegenüber.
Übrig bleiben die normalen Menschen, die zwischen den verschiedenen Gruppen und Fronten zerrieben werden. Zehntausende sind seit Beginn der Kämpfe getötet oder gefoltert worden.
Jahrelanges Warten auf Asylverfahren
Laut einer Schätzung der Internationalen Organisation für Migration IOM sind mindestens 300.000 Menschen aus Tschetschenien geflüchtet, die Hälfte von ihnen ins Ausland. Einer von ihnen ist Magomed. Fünf seiner Kinder, sein Vater und sein Bruder wurden bei einem russischen Raketenangriff getötet. Magomed sieht aus wie sechzig, dabei ist er gerade mal Anfang vierzig. Er ist in psychologischer Behandlung und muss Psychopharmaka nehmen. Seit fünf Jahren wartet er jetzt in Österreich darauf, dass sein Asylantrag bearbeitet wird.
Negativ aufgefallen oder gar straffällig geworden ist er in Österreich nicht. Trotzdem wurde er in die sogenannten "Sonderanstalt für mutmaßlich kriminelle Asylwerber" auf der Saualm gebracht, von wo er aber geflüchtet ist. Jetzt ist er privat bei einer Familie in der Nähe von Klagenfurt untergebracht.
Gefährlich und gewalttätig?
Tschetschenen gelten in Österreich als gefährlich und gewalttätig, wie so manche österreichischen Politiker gerne betonen. Vor allem der inzwischen verstorbene Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider hat sich als Warner vor echter oder vermeintlicher tschetschenischer Gewalt hervorgetan.
Knapp 1.000 Tschetschenen leben in Kärnten - keine sehr große Zahl. Trotzdem werden sie wie in keinem anderen Bundesland zum politischen Thema gemacht. Es geht dabei immer um das Gleiche, nämlich um angebliche tschetschenische Jugendbanden, die einheimische Kärntner terrorisieren erklärt der Psychologe Siegfried Stupnig von der Universität Klagenfurt. Er betreut im Verein Aspis traumatisierte Flüchtlinge. Natürlich gibt es Probleme mit gewaltbereiten tschetschenischen Jugendlichen, sagt er, die gleichen nämlich wie mit einheimischen gewaltbereiten Jugendlichen.
Der Ältestenrat als moralische Instanz
Die tschetschenische Community wisse auch, welche Jugendlichen Schwierigkeiten machen, meist zum großen Kummer der Eltern, sagt Alash Asaev, Sprecher des tschetschenischen Ältestenrates in Kärnten. So einen Rat gibt es inzwischen in Österreich in fast jeder Gemeinde, in der Tschetschenen leben.
Der Ältestenrat versucht gegenzusteuern: Einmal pro Woche gibt es eine Art Unterricht für junge Tschetschenen, in denen ihnen die Werte ihres Volkes beigebracht werden, erklärt Asaev, Jugendlichen mit Problemen wird dabei ins Gewissen geredet.
Dass die Gewalt aus Tschetschenien in Österreich angekommen ist, zeigt aber ein Blick auf die Chronikseiten der Zeitungen: Ein tschetschenischer Jugendlicher verletzt einen Straßenbahnkontrollor schwer. Vier tschetschenische Bauarbeiter, die ihr Auftraggeber um den Lohn prellen will, schlagen ihn und den Polier halb tot - und so weiter und so weiter. Tschetschenische Gewalt richtet sich dabei auch oft gegen Tschetschenen selber.
Keiner traut keinem
Spätestens seit dem Mord an dem Flüchtling Umar Israilov Mitte Jänner in Wien ist klar, dass auch Österreich kein sicherer Ort mehr für Flüchtlinge aus dem Kaukasus ist. Er wurde am hellichten Tag auf offener Straße in Wien Leopoldstadt erschossen, der Haupttäter ist nach wie vor flüchtig.
Umar Israilov hatte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen den Präsidenten Tschetscheniens, Ramzan Kadyrow, eingebracht. Der Präsident persönlich habe Gefangene gefoltert, Israilov wollte das vor Gericht bezeugen. Deshalb hätten die russischen Geheimdienste und die Gefolgsleute Kadyrows seinen Sohn ermordet, erklärt Ali Israilov, der Vater des Ermordeten.
Unter den hier lebenden Flüchtlingen könne keiner dem anderen trauen, erzählt Frau A., eine aus Grosny geflüchtete Internetjournalistin.
Immer weniger Asylanträge anerkannt
Diese Erfahrung hat auch der Herr M. gemacht. In den 1990ern lebte er in einer russischen Großstadt. Bei einem Besuch zuhause wird er entführt, gefoltert und gezwungen, in die Miliz eines Kriegsherren einzutreten. Auf abenteuerlichem Weg gelingt im und seiner Familie die Flucht nach Österreich. Hier kontaktierte er einen Freund - ein Fehler, denn der Freund verlangt Schutzgeld: 15.000 Dollar oder seine kleine Tochter stirbt. 12.000 Dollar davon hat er bereits abbezahlt, Anfang des Jahres aber seinen Job verloren und daher kein Geld mehr. Damit ihn die Bande nicht findet, ist er untergetaucht.
Bis vor wenigen Jahren wurden mehr als 80 Prozent der Asylwerber aus Tschetschenien als Flüchtlinge anerkannt, heuer ist die Anerkannungsquote auf 30 Prozent gesunken.
Die Zahl der Flüchtlinge aus Tschetschenien wird aber nicht sinken, fürchtet Robert Chenciner, Kaukasus-Experte von der Universität Oxford, denn die Lage werde sich - auch angesichts der wirtschaftlichen Lage - nicht längerfristig stabilisieren.
Hör-Tipp
Journal Panorama, Montag, 16. März 2009, 18:25 Uhr
Buch-Tipps
Österreichischer Integrationsfond (Hg.), "Chechens in the European Union"
Thomas Schmidinger und Herwig Schinnerl (Hg), "Dem Krieg entkommen? Tschetschenien und TschetschenInnen in Österreich", Verein Alltag Verlag
Links
ASPIS - Forschungs- und Beratungszentrum für Opfer von Gewalt
SOS Mitmensch - Spendenaufruf Israilov
Integrationsfond - "Chechens in the European Union"
Verein Alltag Verlag - Dem Krieg entkommen?
Polo's Bastards - Robert Chenciner, "Russia’s Splitting Headache - A Brief History Of Chechnya"