Jiang Rongs Kritik am Status quo

Das Buch des Anstoßes

"Ihr Chinesen seid wie Schafe. Ihr habt eine Heidenangst vor Wölfen, darum zieht ihr immer den Kürzeren", sagt der mongolische Hirte und Lehrer zu dem jungen Mann aus der Hauptstadt - und brachte damit ein ganzes Volk zum Nachdenken.

Es grenzt an ein Wunder, dass dieser Roman mit dem Titel "Der Zorn der Wölfe" in China verlegt werden konnte. Aber noch wunderbarer ist, was danach geschah: Mehr als vier Millionen Exemplare wurden offiziell verkauft, etwa 20 Millionen gingen als Raubkopien über den Ladentisch.

Dabei war es nicht allein das Leben der Wölfe, der Totemtiere der mongolischen Nomaden, das die Leser derart faszinierte, sondern vor allem die sehr im Hintergrund gehaltene Kritik am Status quo der chinesischen Gesellschaft. Und der absolute Gegensatz der Lebensphilosophie: Während die im Konfuzianismus erzogenen Han-Chinesen vor allem Gehorsam und Untertanendenken lernen - was auch der Kommunismus nicht ändern konnte oder wollte -, ist das Leben der mongolischen Nomaden von Freiheit geprägt, von absolutem Willen zur Freiheit.

So weit wie möglich weg

Dass der brave junge Mann, den der Autor Jiang Rong in seinem Roman Chen Zhen genannt hat und der eigentlich er selbst ist, überhaupt in das autonome Gebiet der Inneren Mongolei geht, hat mit der Kulturrevolution zu tun, aber anders als gewohnt.

Der junge Mann, Sohn eines glühenden Kommunisten und selbst Rotgardist, sollte im Auftrag und auf Befehl der Partei etwas tun, was er nicht übers Herz brachte: Er sollte Bücher verbrennen. Ausgerechnet er, der schon als Kind alle Bücher verschlang, die in seine Reichweite gelangten, die sein Denken beeinflusst hatten und die er geliebt hatte, sollte zusehen, wie Balzac, Puschkin und Tolstoj in Rauch aufgingen.

Nachdem er etwa 200 verbotene Bücher versteckt hatte, meldete er sich zum freiwilligen Arbeitseinsatz in eine Gegend, die so weit von der Hauptstadt entfernt war, wie überhaupt nur möglich, und deren Äquivalent er aus den Büchern von Jack London kannte: in das Grasland der Inneren Mongolei. Was er dort über Freiheit und das Überleben lernte, prägte ihn für sein weiteres Leben.

Sehnsucht nach Freiheit

Zwar gliederte sich Jiang Rong, der eigentlich Lu Jiamin heißt, wieder in das normale Leben ein - er wurde Professor für Wirtschaftspolitik -, aber die Unruhe und die Sehnsucht nach Freiheit blieben. Insgesamt viermal wurde Lu Jiamin als Konterrevolutionär inhaftiert, das letzte Mal nach der blutig niedergeschlagenen Demonstration am Platz des Himmlischen Friedens. Und während all dieser Zeit gärten die mongolischen Erlebnisse in ihm, bis er sich schließlich hinsetzte und in sechs Jahren aufschrieb, was er über die mittlerweile ausgerotteten mongolischen Wölfe wusste und was sie ihn gelehrt hatten.

Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen: Während die einen Jiang Rong als Verräter beschimpften, setzten die Jüngeren bereits das Wissen über die Wölfe als "Wolfsstrategien" in der Ausbildung von politischen und wirtschaftlichen Führungskräften um. Und die Mongolen, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und der damit verbundenen Zerstörung des Ökosystems ihrer Heimat ihre Lebensgrundlage verloren hatten, verehrten Jiang Rong als großen Weisen.

Irgendwann in der Zukunft

Er selbst sieht die Aufregung, die "Der Zorn der Wölfe" entfacht hat, gelassen. Das, was er wollte, hat er erreicht: das Nachdenken über Freiheit, über Demokratie, über Menschenrechte. "Politische Veränderung in China ist wichtig. Sonst verlieren wir die Errungenschaften der wirtschaftlichen Reformen. Nicht nur die Leute an der Spitze sollten die Früchte des ökonomischen Aufschwungs genießen dürfen”, sagte er in einem Interview für den "Spiegel", und stellt erleichtert fest, dass die politische Führung bereits auf dem richtigen Weg ist, denn sie akzeptiere das Konzept der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit - früher absolut verbotene Worte. Und irgendwann wäre sicher auch in ganz China möglich, was den Hongkongern für das Jahr 2017 versprochen wurde: ihren Regierungschef direkt wählen zu dürfen.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 19. März 2009, 11:40 Uhr

Buch-Tipp
Jiang Rong, "Der Zorn der Wölfe", Goldmann Verlag

Links
Random House - Über Jiang Rong
Spiegel online - Interview mit Jiang Rong