Schlingensiefs Auferstehung im Burgtheater
Mea culpa
"Großer Jubel für einen Auferstandenen" meldet die "Neue Zürcher Zeitung" in ihrer Kritik zu Christoph Schlingensiefs "Mea culpa". Die heimischen Kritiker und das deutsche Feuilleton zeigen sich von Schlingensiefs "ReadyMadeOper" begeistert.
8. April 2017, 21:58
Jubel und lange anhaltenden herzlichen Applaus gab es am Freitag, 20. März 2009 für das neue Projekt des deutschen Multi-Künstlers Christoph Schlingensief im Burgtheater. "Mea culpa", als "ReadyMadeOper" angekündigt, erwies sich als zweieinhalbstündige, mit großem Ensemble und Bühnenaufwand betriebene Beschäftigung mit einem höchst intimen Thema: Schlingensiefs Krebserkrankung, die ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Tod und den Möglichkeiten, diesem doch noch von der Schaufel zu springen, gebracht hat.
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Umjubelte Schlingensief-Premiere
Schlingensief-Projekt im Burgtheater
dpa
Christoph Schlingensief weint noch immer in stillen Stunden über sein Schicksal und denkt trotzdem nicht daran, die weiße Fahne zu hissen. Das hat dem Katholiken auch von kirchlicher Seite schon den Vorwurf eingebracht, seine Krebserkrankung öffentlich "zu inszenieren". Als ob das Thema "Der Künstler und der Tod" nicht schon oft Grundlage für künstlerisches Schaffen gewesen wäre. Jetzt hat der 48 Jahre alte Theater- und Filmregisseur nachgelegt und am Wiener Burgtheater seine neueste Inszenierung "Mea culpa" herausgebracht, für die er am Freitagabend vom Premierenpublikum, darunter Jürgen Flimm, Nike Wagner und Sepp Bierbichler, in die Arme genommen wurde.
APA
Immer wieder wuseln prächtig gewandete Bischöfe, kesse Krankenschwestern oder swingende Tanzgruppen über die Bühne. Das Viva Musica Festival Orchestra aus Bratislava musiziert eifrig (nicht nur) Wagner - schließlich gilt es, die Brücke zwischen Schlingensiefs Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung und seiner Vision eines "Opernhaus Afrika" zu schlagen: Das vom Grünen Hügel abgesiedelte Opernhaus werde sich zwischen den grünen Hügeln Afrikas sicher wohler fühlen, zeigt sich Meyerhoff als Schlingensiefs Alter Ego überzeugt. Neben Fritzi Haberlandt hat der Burgstar die persönlichsten Texte zu bewältigen, und er löst seine Aufgabe souverän.
Der Standard
In Mea Culpa verwischt Christoph Schlingensief eine heikle Markierung: Er ignoriert die Schwelle, die die Gesunden von den Kranken trennt. Indem er seine Krebserkrankung zum Thema einer Oper erhebt, die er obendrein auf der größten deutschsprachigen Schauspielbühne zur Uraufführung bringt, setzt er den Kunstbezirk unter Druck: Eine wunderbare Einrichtung wie das Burgtheater muss unter verschwenderischer Aufbietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen "Wahrheit" über uns Menschen herausrücken. (...) Am Ende des Tages (...) ist Schlingensief mit seiner Erkrankung ganz allein. "Das war so schön. Ich danke euch sehr! Aber ich mag einfach noch nicht!", sagt Joachim Meyerhoff, der als wunderbares Alter Ego seines Regisseurs den Kranken gegeben hat.
Die Presse
Aus Dutzenden musikalischen, literarischen, philosophischen und popkulturellen Versatzstücken lustvoll zusammengeklaut, komponiert im Sinne von zusammengesetzt, ist diese "Readymade-Oper" Schlingensiefs zugänglichste Arbeit der jüngeren Zeit. Ein Volksstück ohne Moral, das faszinierend das schafft, was Schlingensief so einzigartig macht: die Durchdringung der Genres und die Auflösung der Grenzen zwischen Spiel und Realität.
FAZ
Christoph Schlingensief hat, kurzfristig eingesprungen in eine Spielplanlücke, für Wiens Burgtheater eine herrliche neue Klamotte inszeniert. Es handelt sich um eine Art Kompott aus Fremdtexten, Lieblingsmusiken und Improvisation, ein stark ironiegepfeffertes, mit erstklassigen Schauspielerkräften garniertes Opern- und Operettenpüree, darin unter anderem Bayreuth gründlich verhauen und anerkannt wird als die Wurzel allen Übels und gleich auch noch ein paar widerlich sarkastische Kritiker mit in die Sauce hineingeraten.
Die Welt
Der Glanzpunkt der Produktion: Eine ehemalige Opernchoristin, Elfriede Rezabek, singt Isoldes Liebestod. Wen das nicht ergreift, der hat seine Emotionen an der Garderobe abgegeben. Diese greise Isolde lockt ihren Tristan sirenengleich. Aber Christoph Schlingensief denkt noch lange nicht ans Ertrinken, Versinken in höchster Lust, unbewusst. Der Himmel kann warten.
taz
"Mea culpa", das Theater nach einer langen Dunkelphase, wirkt distanzierter als die "Kirche der Angst" - und doch umarmt es immer wieder das Publikum. Schlingensief lässt Texte anderer, Wunden zeigender Kranker vorlesen, von Derek Jarman bis Jean-Luc Nancy, und relativiert damit seinen vermeintlich provokanten Sonderstatus als Tabubrecher, der seine Todesangst formuliert.
NZZ
In der Tat hat man auch Schlingensief schon pessimistischer gesehen. Vom tränenreichen Leidensdruck der Duisburger "Kirche der Angst" ist in der neuen "Readymade-Oper" mit dem Titel "Mea culpa" nicht mehr viel zu spüren. Es geht dem deutschen Künstler besser. (...) Die Heilsversprechen von Religiosität, Wellness und Richard Wagner werden auf der Drehbühne des Burgtheaters sanft zerrieben. Wo eine Gralsburg und das afrikanische Festspielhaus aufragen, dort trägt Schlingensief die Monstranz seiner Zitat-Kunst vor sich her. (...) Über einen eigens für ihn angelegten Steg wandelt der leibhaftige Christoph Schlingensief auf die Bühne des Burgtheaters, liest aus seinen Krankenhaus-Tagebüchern und erbittet sich vom Publikum ähnliche Notizen. "Ich les es gerne mal." So hat der barocke Wiener den Tod am liebsten: als vorübergehende Erscheinung. Großer Jubel für einen Auferstandenen.
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Burgtheater
Mea culpa
Der Standard - Der Kurarzt als Bilderwerfer
Die Presse - Schlingensief-Oper: "Wir sind eins"
FAZ - Hitler ist an allem schuld
Die Welt - Schlingensief macht das Burgtheater zur Kirche
taz - Zeige deine Wunde
NZZ - Ich dank euch sehr