Kein neutraler Beobachter

Am Beispiel des Hummers

Alljährlich steht in Maine beim Lobster-Festival der größte Hummer-Kochtopf der Welt. David Foster Wallace nimmt seine Beobachtungen zum Anlass, universale Betrachtungen der Welt anzustellen, ohne einen moralischen Standpunkt einzunehmen.

Im Sommer 2003 schickte das amerikanische Magazin "Gourmet" den Schriftsteller David Foster Wallace zum alljährlichen Lobster-Festival in Maine. Dort steht nicht nur der größte Hummerkochtopf der Welt, es gibt noch eine Reihe anderer Attraktionen: Konzerte mit bekannten Country-Sängerinnen, eine Schönheitskonkurrenz inklusive der Wahl zur Midcoast-Meeresgöttin, eine große Parade am Samstag und am Sonntag ein spezielles Wettrennen, das Crate Race. Da müssen die Teilnehmer über eine tückische Brücke aus Krabbenkisten laufen und zum Vergnügen der Zuschauer gehen sie meist baden.

"In Zukunft ohne mich"

Man sieht, das Lobster-Festival ist eine jener typischen Veranstaltungen, bei denen sich sehr viele Menschen sehr gut amüsieren - ein paar sich aber zutiefst unwohl fühlen. Und einer jener, der das, was er da sieht, gar nicht leiden kann, ist David Foster Wallace.

Schon in seinem Buch "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich", beschreibt er, wie ein sensibler Geist etwas an sich Tolles - eine Luxuskreuzfahrt - als etwas zutiefst Unangenehmes empfindet. Für Wallace war der Aufenthalt an Bord ein infernalisches Gepiesackt-Werden von den teuflischen Erfindungen des organisierten Vergnügens. Und ähnlich ist es dem Autor auch in Maine ergangen.

Reihenweise Beschwerden

Vieles kann er nicht leiden; eigentlich kann er gar nichts leiden. Er beschwert sich über die 20 Dollar extra, die beim Konzert für einen Klappstuhl verlangt werden, über die geringe Anzahl von Dixie-Klos und darüber, dass das Finale der Wahl zur Meeresgöttin nichts anderes als eine zähe Prozedur voller Danksagungslitaneien an lokale Sponsoren ist.

Diese - durchaus vorhersehbaren Erregungen - bilden zum Glück nur einen kleinen Teil dieses sehr, sehr schmalen Bändchens. Und sie sind auch deshalb erträglich, weil sich Foster seiner Position stets bewusst ist. In einer der für seinen Stil so charakteristischen Fußnoten meint er: Da er Touristenorte grundsätzlich nicht möge und im Leben nicht begreifen könne, was daran so toll sein soll, wäre er wahrscheinlich überhaupt der Falsche, über ihre vermeintliche Anziehungskraft zu schreiben.

Tiefe Depressionen

Natürlich ist er aber genau der Richtige, um über dieses Ereignis zu berichten, bei dem sich zwischen dem 30. Juli und dem 3. August 2003 mehr als 100.000 Besucher einfanden. Schnell kommt Wallace Foster vom Eigentlichen zum Uneigentlichen, vom unmittelbaren Ereignis zu einer universalen Betrachtung der Welt.

Schon seit den frühen 1980er Jahren litt David Foster Wallace an schweren Depression. Seit damals nahm er Antidepressiva und seine Krankheit schimmert in seinen Texten immer wieder durch, auch wenn er nie direkt ein Wort über seine inneren Turbulenzen publiziert hat.

In seiner Kurzgeschichte "The Depressed Person", zum Beispiel, beschreibt er das Leben einer zutiefst traurigen jungen Frau und er zählt auf, welche Medikamente sie schon probiert hat: Paxil, Zoloft, Prozac, Tofranil, Wellbutrin, Elavil, Metrazol, Nardil und Xanax, aber nichts davon konnte ihr das Leben auf Erden weniger schmerzhaft erscheinen lassen. Man kann davon ausgehen, dass Wallace hier auch über sich schrieb, denn das Faktum, dass er aufgrund der Nebenwirkungen sein Medikament Nardil im Juni 2007 absetzte und deshalb in tiefe Depressionen fiel, gilt als der Hauptgrund für seinen Selbstmord.

Fast eine wissenschaftliche Abhandlung

Für den Depressiven gibt es nichts Schlimmeres, als anderen beim Glücklich-Sein zuschauen zu müssen. Auch wenn es sich dabei nur um "falsche Paradiese" handelt, um Simulation von Zufriedenheit, wird ihm doch wieder bewusst, was ihn von den Anderen unterscheidet. Und so fressen also die Massen ihren Hummer in sich hinein und David Foster Wallace denkt übers Sterben nach, darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen dem Hummer unterstellen, er habe ohnehin keine Gefühle und deshalb könne man ihn auch ohne Weiteres lebendig ins siedende Wasser schmeißen.

Foster Wallace nimmt hier keinen moralischen Standpunkt ein - wie könnte er auch, er ist bekennender Fleischliebhaber -, aber seine Vermutungen, was der Hummer fühlen könnte, Foster Wallace' quasi-wissenschaftliche Abhandlung über die Überlebenspräferenz des Tieres sind äußerst bewegend. Wenn der Autor schreibt, wie die Hummer mit ihren machtlosen Scheren winken, wie sie übereinanderkrabbeln, sich in die hintersten Winkel verkriechen oder panisch zurückweichen, sobald sich jemand ihnen nähert, dann wird hier mit wenigen Federstrichen das Dilemma des Seins gezeichnet. Das alles wirkt deshalb so stark, weil hier keiner mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit das Tun der Anderen verurteilt, sondern weil sich ein großer Autor große Fragen stellt.

Freiheiten eines Magazin-Autors

Dieser Text ist auch ein gutes Beispiel dafür, welche großartigen Reportagen noch immer in den amerikanischen Magazinen erscheinen, und welche Freiheiten diese ihren Autoren gewähren. Die Unterzeile von "Gourmet" lautet "The Magazin of Good Living".

Nicht nur liefert Foster Wallace einen Text ab, in dem es kaum um Fragen der Geschmacksverfeinerung und des guten Essens geht, nein, er stellt auch gleich noch das ganze Konzept des Heftes in Frage. Was ist denn mit "gutem Leben" überhaupt gemeint? Lässt sich das wirklich auf lukullische Genüsse verkürzen? Und dann der schöne Abschlusssatz:

Selbst für einen noch so ehrlich interessierten Reporter vor Ort gibt es Fragen, die er seinen Mitmenschen nicht mehr zumuten sollte.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 10. April 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 12. April 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
David Foster Wallace, "Am Beispiel des Hummers", aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay, Arche Paradies Verlag