Wie der Zweite Weltkrieg begann
Menschenrauch
Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt waren keineswegs historische Lichtgestalten. Um diese These zu illustrieren, hat Nicholson Baker eine Text-Collage aus Zeitungsartikeln, Brief-Passagen, Tagebüchern und Denkschriftzitaten zusammengestellt.
8. April 2017, 21:58
Der Zweite Weltkrieg, so insinuiert Nicholson Baker, hätte nicht sein müssen, es hätte eine Alternative gegeben zu den mehr als 55 Millionen Todesopfern, die der bisher größte Krieg der Menschheitsgeschichte gefordert hat. In den USA stieß Bakers Textmontage nach dem Erscheinen der Originalausgabe 2008 auf heftige Ablehnung, man warf dem Autor Naivität und eine bedenkliche Nähe zu revisionistischer Geschichtsverzerrung vor.
Letzteres stimmt nicht ganz: Nicholson Baker beschönigt die Unmenschlichkeit des Hitlerismus in keiner Weise. Nur: Er arbeitet vor allem die Schattenseiten der alliierten Kriegsführung heraus.
Churchills Antisemitismus
Winston Churchill zum Beispiel: Schon in jungen Jahren sei der britische Kriegspremier ein eisenfressender Unsympathler gewesen, legt Bakers Textcollage nahe, ein wüster Militarist - und ein Antisemit dazu. Baker zitiert einen Artikel, den Churchill im Februar 1920 über die "bolschewistische Gefahr" und das "finstere Bündnis" geschrieben hatte, das das "internationale Judentum" mit den Kommunisten geschmiedet habe.
"Diese Bewegung unter den Juden ist nicht neu. Es handelt sich um eine weltweite Verschwörung zur Vernichtung der Zivilisation."
Roosevelts Quotenregelung
Auch Franklin D. Roosevelt und seine Frau Eleonore hätten noch in den 1920er Jahren üble Vorurteile gegen Juden gehabt, belegt Nicholson Baker in seinem Buch. Das sei mit ein Grund gewesen, warum Briten und Amerikaner am Vorabend des Zweiten Weltkriegs - als die Lage der Juden im "Dritten Reich" immer verzweifelter wurde - so wenig jüdische Flüchtlinge in ihre jeweiligen Länder gelassen hätten. Und es stimmt ja: In dieser Frage hat sich Roosevelt nicht eben mit Ruhm bekleckert.
Wenige Tage nach der sogenannten "Reichskristallnacht" wird der amerikanische Präsident von einem Reporter gefragt, ob die USA nicht mehr jüdische Flüchtlinge ins Land lassen könnten. Roosevelts Antwort erinnert an die Wortwahl heutiger Law-and-Order-Politiker:
"Das steht derzeit nicht zur Debatte. Wir haben unsere Quotenregelung."
Rettungstransport abgelehnt
Wenige Wochen später beginnt der amerikanische Quäker Clarence Pickett eine Kampagne für die Aufnahme jüdischer Flüchtlingskinder aus dem "Deutschen Reich". Ein Rettungstransport sollte 10.000 jüdische Kinder zusätzlich in die USA bringen. Dazu hätte es allerdings einer Gesetzesänderung bedurft.
Die Abgeordnete Caroline O'Day versuchte Präsident Roosevelt zu erreichen, um ihn zu fragen, wie er zu dem Gesetzesentwurf zugunsten der jüdischen Flüchtlingskinder stand. Es war der 2. Juni 1939. (...) Roosevelts Sekretär gab O'Days Nachricht weiter. Roosevelt schrieb: "Ablage. Nicht bearbeiten. Roosevelt."
Senfgas für die Aufständischen
Auch Winston Churchill, das versucht Nicholson Baker in seinem Buch herauszuarbeiten, taugt nicht zum uneingeschränkten Vorbild in Sachen humanistischer Gesinnung. In jüngeren Jahren etwa habe der spätere Herr über Downing Street 10 verbrecherische Einsatzbefehle gegeben, im August 1920 beispielsweise, als Aufständische im Irak die Rebellion gegen die britische Besatzungsmacht geprobt hatten. Churchill, damals Luftfahrtminister, schrieb an den Oberkommandieren der Royal Air Force:
"Meiner Meinung nach sollten sie unbedingt mit den Gasbomben-Versuchen fortfahren, vor allem mit Senfgas. (...) Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Volksstämme aus."
Offener Brief von Mahatma Gandhi
Die Absicht, die Nicholson Baker mit Zitaten dieser Art verfolgt, ist klar: Er will Churchill und Roosevelt ihres Nimbus als untadelige Staatenlenker entkleiden. Auch wenn der Autor ganz auf die Kraft seiner Collage vertraut und sich eigener Kommentare weitegehend enthält, so wird doch klar, wem Bakers Sympathien gehören: den Pazifisten der 1930er Jahre, die die Welt vor einer weiteren Tragödie nach dem Muster des Ersten Weltkrieg bewahren wollten.
Aldous Huxley, Stefan Zweig, Christopher Isherwood und Mahatma Gandhi sind die immer wieder zitierten Gewährsleute, auf die sich Baker bezieht. So hat Baker etwa auch einen offenen Brief Mahatma Gandhis vom Juli 1940 in seine Textsammlung aufgenommen. Gandhi empfiehlt den Briten, den bewaffneten Kampf gegen Hitler aufzugeben und die Deutschen einfach ins Land zu lassen.
"Sollen sie sich doch Eure wunderschöne Insel mit all Euren prächtigen Bauwerken einverleiben. Selbst wenn Ihr all das hergebt, Eure Seele und Euren Geist können sie Euch nicht nehmen."
Mahatma Gandhi plädiert für gewaltlosen Widerstand gegen Hitler und Mussolini. Der Preis möge hoch sein, erklärt der indische Unabhängigkeitskämpfer, letztlich würde doch das Gute den Sieg davontragen.
Den Pazifisten gewidmet
Zu dieser Zeit hatte Hitler den Briten tatsächlich schon einige, wie er betonte, ernstgemeinte Friedensvorschläge unterbreitet. Hätte Churchill darauf eingehen sollen? Ja, meint Baker, dann wäre der Zweite Weltkrieg zumindest in Westeuropa um vieles weniger blutig verlaufen. Was soll man davon halten? Bakers viel diskutierte Zitatensammlung ist ein Stück nachgereichte Appeasement-Literatur. In seinem Nachwort schreibt der amerikanische Autor:
Ich widme dieses Buch Clarence Pickett und anderen britischen und amerikanischen Pazifisten. Sie sind nie gebührend gewürdigt worden. Sie haben versucht, jüdische Flüchtlinge zu retten, Europa mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die USA mit Japan zu versöhnen und den Krieg zu verhindern. Sie sind gescheitert, aber sie hatten Recht.
Hatten sie wirklich recht? Das ist die Frage. Nicholson Bakers Collage ist eine dissidente Stimme im Chor des historiographischen Mainstreams. Es hätte eine Alternative zum Zweiten Weltkrieg gegeben, behauptet Baker, und diese Alternative hätte millionenfaches Leid, millionenfaches Elend, millionenfachen Tod verhindert. Hätte es das wirklich? So recht glauben mag man es nicht.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Nicholson Baker, "Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete", aus dem Englischen übersetzt von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld, Rowohlt-Verlag
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Rowohlt - Nicholson Baker