Biografische Anekdoten

Künstler-Legenden

Anekdoten spielten in der frühen Musikgeschichte eine wichtige Rolle. Sie erzählen eine Geschichte, die eine Person besonders gut charakterisiert. Musikgelehrte früherer Jahrhunderte publizierten ganz selbstverständlich Anekdoten-Sammlungen.

"Durch die Anekdoten wird ein ganz bestimmtes Künstlerbild tradiert", erklärt Melanie Unseld von der Universität Oldenburg "sie sind auf das Genie hin konzipiert. Wir versuchen uns in der Gegenwart mühsam davon abzugrenzen und diese Bilder nicht weiter zu perpetuieren." Anekdoten sind für die Musikwissenschaftler heute höchstens noch als Bilder interessant, die abseits historischer Tatsachen konstruiert wurden.

Fußtritt als Ritterschlag

Berühmt ist eine Anekdote über Mozart. Der Komponist soll mit einem Fußtritt aus dem Hofdienst entlassen worden sein. Mozart selbst bezeugte das in einem Brief an seinen Vater. Er rekurrierte damit aber vermutlich nur auf eine lange Tradition von Anekdoten, die einen Fußtritt als einen Ritterschlag für einen außerordentlichen Künstler inszenierten. Der Fußtritt wurde zum Modell, um einen Künstler aufzuwerten, so Unseld.

Was wird wohl einst auf der Tafel stehen, die man Ihnen zu Ehren hier oben anbringen wird?», fragte ein Freund den Komponisten Johannes Brahms, als er mit diesem vor dem Haus Karlsgasse 4 in Wien stand, das der Meister lange bewohnte. Trocken erwiderte Brahms: 'Wohnung zu vermieten!'

Anekdoten werden heute vor allem bei der Musikvermittlung eingesetzt. Die Schmunzelgeschichten sind bei Kindern sehr beliebt. Allerdings werden hier angestaubte Künstlerbilder des 19. Jahrhunderts tradiert, die absolut nicht mehr zeitgemäß sind, gibt Unseld zu bedenken.

Eigene Gattung in der Renaissance

In der Renaissance werden ausgefeilte, ausgearbeitete Biografien von Künstlern zu einer zentralen Gattung. Giorgio Vasari veröffentlichte ein Werk mit rund 130 Lebensbeschreibungen von Künstlern wie Raffael oder Michelangelo.

Vasari deutet darin das Werk eines Künstlers erstmals psychologisch. Raffael zum Beispiel wird als vollkommen naiver Jüngling dargestellt, der wie ein Nachtwandler durchs Leben ging, und alle seine Schöpfungen einer überirdischen Inspiration verdankte. Das ermöglichte erst, dass seine Bilder so harmonisch sind.

Vasari wörtlich?

Diese anekdotischen Lebensbeschreibungen wurden im Laufe der Jahrhunderte aber oft wörtlich genommen. Den Zeitgenossen Vasaris war noch klar, dass Raffael nicht wirklich am Karfreitg geboren und am Karfreitag gestorben ist. Und dass sein letzter Pinselstrich nicht dem Gesicht Christi gegolten haben mag- sie haben das vermutlich als raffinierte literarische Stilisierung erkannt. In späteren Jahrhunderten stifteten falsche Geburts- oder Sterbedaten allerdings Verwirrung.

Biografien sind immer vor der Hintergrund der Zeit zu sehen, warnt der Germanist Christian von Zimmermann. Anekdoten sind austauschbar und werden oft über Jahrhunderte immer wieder verschiedenen Künstlern angedichtet. Für die Biografen ist es eine besondere Herausforderung, zwischen Anekdote und Fakt zu trennen, zumal der historische und kulturelle Kontext oft bestimmt, was wichtig ist.

"Der Märchendichter Hans Christian Andersen war ein ausgesprochener Hypochonder. Er hatte auch eine krankhafte Furcht davor, dass man ihn einmal lebendig begraben könnte. Jeden Abend, bevor er ins Bett ging, schrieb er folgende Worte auf einen Zettel: "Ich bin nicht tot, nur scheintot." Diesen Zettel legte er auf die Mitte des Bettvorlegers, wo er jedem sofort auffallen musste."(Leipziger Bücherei, Literarische Anekdoten)

Biographical turn?

Derzeit erleben wir eine Phase des Biographical Turns, eine Neubewertung der Biografien. Es gibt wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Geschichten vom Leben anderer.

Dieser Biografien-Boom mag auch damit zusammenhängen, dass Menschen heute oft viele Biografien in einem einzigen Leben unterbringen können.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, MIttwoch, 20. Mai 2009, 21:01 Uhr

Link
Leipziger Bücherei - Literarische Anekdoten