Märchen brauchen nicht nur Kinder
Storytelling
Wer Situationen beschreibt, in denen sich die wahre Natur eines Menschen offenbart, der hat Leser oder Zuseher. Vom Hollywood-Film bis zum fesselnden Werbespot: Es sind die archetypischen Storys, die uns seit dem Gilgamensch-Epos immer wieder fesseln.
8. April 2017, 21:58
Evas Biss in den Apfel war der Ausdruck des Protests gegen die im Paradies herrschende Ordnung. Als Apple den ersten Computer mit leicht zu bedienender grafischer Oberfläche vorstellte, dominierten Microsoft und IBM den Computermarkt. Apple wählte als Firmenlogo einen angebissenen Apfel, das archetypische Symbol des Protests gegen die herrschende Ordnung.
Welche Geschichte erzählt ein Unternehmen?
Warum fühlen sich viele Amerikaner bei "Starbucks" so wohl? Für den Unternehmensberater Andreas Salcher ist dies nicht in erster Linie auf die Qualität des Kaffees zurückzuführen, sondern auf die Geschichte, die das Unternehmen erzählt: Der Name "Starbucks" ist Herman Melvilles Roman Moby Dick entlehnt, in dem der erste Maat diesen Namen trug.
Besonders in den ersten Jahren dominierten in den Filialen dunkles Holz und Messing, man sollte sich wie auf einem Schiff fühlen, geschützt gegen die rundum tobende See. Dazu kamen bequeme Lederfauteuils und Soft-Jazz. Das Logo der Coffeeshop-Kette basiert zudem auf einem Holzschnitt aus dem 17. Jahrhundert, der eine Seegöttin zeigt.
Apell an das kollektive Unterbewusstsein
Andreas Salcher, der auch als Schüleranwalt tätig ist und eben ein Buch mit dem Titel "Der verletzte Mensch" herausbrachte, hat sich mit Bedeutung und Kraft von Archetypen in der Businesswelt beschäftigt. Aus der antiken Überlieferung übernommen, bezeichnet der von C. G. Jung geschaffene Begriff des "Archetypus" die im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster.
Wenn eine Marke an das kollektive Unbewusste appelliert, dann ist sie meist so richtig erfolgreich. Zwölf Grundgeschichten gibt es, die die Menschen im Laufe der Jahrtausende am Lagerfeuer sitzend immer wieder erzählt und abgewandelt haben. Warum hat uns die Geschichte von Lady Di so gerührt? Weil sie eine Neuauflage der Aschenputtel-Geschichte ist, inklusive böser Schwiegermutter.
So wie auch der Film "Pretty Woman" mit Julia Roberts und Richard Gere in den Hauptrollen. Wird die schöne Vivian an Selbstachtung gewinnen und aus dem Prostitutionsmilieu herauskommen? Wird sich Edward, der reiche, aber gefühlsarme Geschäftsmann, durch den Einfluss der lebensfrohen Vivian verändern und am Ende gar als ihr Märchenprinz dastehen?
Eine Handvoll stets wiederkehrender Bauelemente
Die meisten erfolgreichen Drehbuchschreiber haben sich intensiv mit C. G. Jungs Tiefenpsychologie auseinandergesetzt. Der für den Disney-Konzern tätige Geschichtenentwickler Christopher Vogler zeigt in seiner Odyssee des Drehbuchschreibers auf, wie sehr das amerikanische Erfolgskino auf mythologischen Grundmustern beruht.
Ob Unheimliche Begegnung der Dritten Art, Titanic oder König der Löwen: Laut Christopher Vogler bestehen alle Geschichten im Grunde aus einer Handvoll stets wiederkehrender Bauelemente, die uns auch in Mythen, Märchen, Träumen und Filmen immer wieder begegnen. Weil Mythen ein praktikables Modell für ein besseres Verständnis dessen sind, wie wir leben sollen. Seit Urzeiten wollen wir aus unedlen Materialen Gold oder aus uns selbst bessere Menschen machen.
Die Reise eines Helden
Gute Filme erinnern uns daran, dass wir etwas bewegen können, dass es an uns liegt, Schicksalsschläge als Herausforderungen zu sehen und nicht als Tatsachen, denen wir machtlos ergeben sind. George Lucas etwa ist sich der Kraft der alten Geschichten durchaus bewusst. Die sechs Episoden der Star Wars-Saga gelten nicht umsonst als die erfolgreichste Filmproduktion aller Zeiten.
Der Ruf des Abenteuers, die entscheidende Prüfung, die Rückkehr mit dem Elixier: Luke Skywalker durchläuft insgesamt zwölf Stationen einer "Reise des Helden", die unbewusst in uns abläuft. Mentoren, dunkle Schatten, Schwellenhüter kommen da vor, so wie im echten Leben auch. Erfolgreiche Geschichten stellen immer wieder universelle "kindliche" Urfragen wie "Woher komme ich?", "Was ist gut, was ist böse" oder "Gibt es sonst noch jemanden da draußen?"
Von den uralten Geschichten geht auch heute noch eine enorme Kraft aus, die eine heilsame Wirkung auf die Menschheit haben und die Welt zu einem besseren Ort machen können, ist der Drehbuchautor Christopher Vogler überzeugt. Die Odyssee ist keineswegs von gestern. Und Märchen brauchen nicht nur Kinder.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 18. Mai bis Mittwoch, 20. Mai 2009, 9:05 Uhr