Amartya Sen

AP/GRETCHEN ERTL

Amartya Sen

Ökonomie für den Menschen

Neoliberale Konzepte haben die Weltwirtschaft kurzfristig lahm gelegt. Der unkontrollierte freie Handel ist an seine Grenzen gestoßen. Experten suchen nach neuen Leitlinien für Ökonomie und Wirtschaft. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen hat in die Diskussion um die Wohlfahrt einer Gesellschaft den so genannten Capability Approach eingeführt. Für den US-amerikanischen Ökonomen definiert das schwächste und nicht das stärkste Mitglied einer Gesellschaft nachhaltig die Qualität des Zusammenlebens.

In seiner "Ökonomie für den Menschen", für die Amartya Sen 1998 den Nobelpreis erhielt, entwarf er eine Programmschrift, die ökonomische Vernunft, politischen Realismus und soziale Verantwortung zusammen führte. Und seine Thesen sind heute aktueller denn je.

Entwicklungschancen für jeden Einzelnen

In zahlreichen Untersuchungen hat Amartya Sen die Entwicklung von Gesellschaften untersucht - und miteinander verglichen. Die Schlüsse, die er daraus gezogen hat, fasst er in einer neuen Bewertungskategorie zusammen: den Capability Approaches.

Er setzt mit dieser Kategorie an, um die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen in einer Gesellschaft herauszufinden. Damit hat er nachhaltig die Lehre der Entwicklungsökonomie beeinflusst. Dieser Ansatz ist längst von europäischen Wissenschaftlern übernommen worden. Einer von ihnen ist Jürgen Volkert von der Fachhochschule Tübingen. Er erstellte im Auftrag der Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2008 den kritischen Bericht "Armut und Reichtum in Deutschland", der die Entwicklung der Lebensbedingungen in der Bundesrepublik analysiert.

"Sen kritisiert die Prämisse der Nutzenmaximierung. Für ihn geht es um die Verwirklichungschancen jedes Einzelnen. Die Voraussetzung dafür ist die individuelle Freiheit. Doch um diese nutzen zu können, müssen Basics erfüllt sein: Der Zugang zu ausreichender Ernährung, zur Bildung und zur Gesundheitsfürsorge muss gewährleistet sein", erklärt Volkert.

Demokratie und Pressefreiheit

Bereits 1990 entwickelte Amartya Sen in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen den Human Development Approach Index. Damit wurde es möglich, weltweit die Entwicklungskapazitäten der unterschiedlichen Gesellschaften zu vergleichen. Die Capabilities des Einzelnen wurden zum Thema der Politiker und nahm sie in die Verantwortung.

Die wichtigsten Voraussetzungen für die freie Entfaltung des Individuums sind Demokratie und Pressefreiheit. Denn für Amartya Sen ist die politische Dimension nicht von der wirtschaftlichen zu trennen. So kommt es zum Beispiel laut den Untersuchungen von Amartya Sen in demokratisch regierten Ländern nicht zu Hungersnöten: "In einer Demokratie ist es nicht leicht, nach einer Hungersnot die Wahl zu gewinnen. Die Opposition und die Freie Presse sorgen dafür, dass die Hungersnot diskutiert und publik gemacht wird. Und die Mächtigen müssen reagieren. Konkret haben meine Untersuchungen gezeigt, dass es in demokratischen Gesellschaften nie wirkliche Hungersnöte gegeben hat."

Bildung und Gesundheitswesen sind Basic Capabilities

Demokratisch denken und handeln heißt nicht nur, politische Repräsentanten zu wählen. Demokratie bedeutet: am Gemeinwesen teil nehmen, seine Meinung zu formulieren und zu begründen, Kritik zu üben und für seine Handlungen die Verantwortung zu übernehmen: und zwar unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft.

Bildung und Gesundheitswesen sind Basic Capabilities für einen ökonomischen Aufschwung. Kontrolliert werden die sozialen Errungenschaften durch die freie Presse. Denn Informationen und Debatten garantieren die Einhaltung der bürgerlichen Rechte und: sie sind nachweislich erfolgreicher als Verordnungen und Sanktionen.

Als Beispiel führt Amartya Sen die Geburtenrate im Indischen Bundesstaat Kerala an, wo auf der Basis öffentlicher Diskussionen Aufklärung zum Thema Geburten stattfand. Der Erfolg war überzeugend. Die Geburtenrate von drei Kindern pro Frau im Jahr 1979 sank auf 1,7 Kinder pro Frau im Jahr 2008. Im totalitär regierten China lag die Geburtenrate im Jahr 1979 bei 2,8 und sank auf ebenfalls 1,7 im Jahr 2008. Doch der Weg, den China beschritt, sind Zwangsabtreibungen und rigide Sanktionen, die Familien mit dem zweiten Kind treffen. Der Preis dafür ist großes individuelles Leid und eine anwachsende Kindersterblichkeit.

Armutsbekämpfung hat Vorrang

Demokratie und öffentlicher Diskurs sind für Amartya Sen kein Privileg der westlichen Hemisphäre. Denn in den unterschiedlichsten Kulturen: in Asien, in Afrika und auch in Südamerika gibt es traditionelle Foren, in denen die Belange des Gemeinwesens diskutiert werden. Als Wissenschaftler und als politisch denkender Weltenbürger ist es wichtig, genau hinzusehen und diese Vielfalt wahrzunehmen und schätzen zu lernen.

Der Ökonom Amartya Sen hat in der Debatte um Armutsbekämpfung internationale Maßstäbe gesetzt. Persönlich engagiert er sich an caritativen Projekten. Mit dem Geld, das er für den Nobelpreis erhielt, unterstützt er Sozialprojekte in Bangladesh. Seine theoretische Arbeit ist von einer Vision geleitet: Einer Ökonomie für den Menschen.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 3. Juni 2009, 21:01 Uhr

Buch-Tipps
Amartya Sen, "Ökonomie für den Menschen", DTV 2007

Amartya Sen, "Die Identitätsfalle", Verlag C.H. Beck 2007

Franz Eiffe, "Auf den Spuren von Amartya Sen", Verlag Peter Lang Wien 2009 (erscheinend )

Luise Gubitzer, Andrea Grisold, Reinhard Pirker, "Das Menschenbild in der Ökonomie", Löcker Verlag Wien 2007

Jürgen Volkert, "Armut und Reichtum in Deutschland", Statist. Monatshelft Baden Wüttemberg Heft 1, 2008

Links
Nobelprizes.org - Amartya Sen
YouTube - Conversations with history: Amartya Sen”