Illegale Immigranten

Nichts was uns schützt

Eine Frau verliert ihren Job als Kassiererin, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllt sie immer lustloser. Bis ihr eines Tages die Situation von illegalen Immigranten in ihrer Umgebung bewusst wird und sie eine neue Herausforderung findet.

"Wie war dein Tag?" fragt Stephane seine Frau Marie, wenn er abends nach Hause kommt. Doch eigentlich ist seine Frage keine Frage, sondern eine Floskel. Maries Tage sind gleichförmig, grau und öde, ein Leben auf Sparflamme, zwischen Reihenhaussiedlung und Einkaufszentrum, ein Leben irgendwo im Nordwesten Frankreichs, in einer Vorstadt nahe am Meer. Seit Marie auch noch ihren Job als Kassiererin im Supermarkt verloren hat, wirkt sie müde, vergesslich und unzufrieden.

"Wir führten alle dasselbe Leben, waren denselben Weg gegangen. Wir hatten einen Mann, ein Haus, Kinder und Kredite bis zum Abwinken. Warum zermürbt uns das Leben so sehr? Was haben wir getan, dass es uns so zusetzt?"

Bei den Gestrandeten

Als Marie eines Nachts mit dem Auto von der Straße abkommt, kommt ihr ein Mann zu Hilfe, ein dünner, unrasierter Kerl mit hohlen Wangen - einer von den Flüchtlingen, die, nachdem die Stadt das Auffanglager geschlossen hat, in heruntergekommenen Hütten hausen. Am nächsten Tag macht sich Marie auf den Weg in die Stadt, zu dem Zelt, in dem die Flüchtlinge ihre Mittagssuppe bekommen, um sich bei ihrem Helfer zu bedanken.

Sie sieht Männer mit müden Augen, zerrissenen Cordhosen und abgetragenen Lederjacken, die man "die Kosovaren" nennt, obwohl es vor allem Iraner, Iraker oder Kurden sind. Im Flüchtlingszentrum, einem Plattenbau, wo die Gestrandeten mit Altkleidern und Waschzeug versorgt und jene verarztet werden, die die Polizei verprügelt hat, lernt sie Isabelle kennen, eine Sozialhilfeempfängerin, die ganz in der Sozialarbeit aufgeht, die Flüchtlinge heimlich bei sich zu Hause versteckt, ihnen eine heiße Dusche, eine warme Mahlzeit, eine alte Matratze zum Übernachten bietet. Isabelle imponiert Marie. Sie eifert ihr nach - und packt mit an.

"Ich dachte über mich nach. Wie ich mich jeden Abend ins Zeug legte. Und danach spüren konnte, dass ich am richtigen Ort war und mit mir selbst im Reinen, endlich mal, ganz ich und mehr als je mit mir im Reinen."

Die "Flüchtlingshure"

Mit schnörkelloser Sprache und knappen, eindringlichen Szenen, in denen das Betongrau und der Dauerregen nicht nur die Außenwelt beschreiben, zeichnet Olivier Adam den Emanzipationsversuch seiner Heldin nach - von der in den Tag hineinlebenden Hausfrau zur selbstlosen Flüchtlingsbetreuerin; von einer, die wegsah, wenn die zerlumpten Gestalten ihren Weg kreuzten, zu einer, die auf sie zugeht und hilft. Und doch bleibt diese Marie Gefangene einer stummen Welt, schwankend zwischen Entschlusskraft und Apathie, ihrem Mann, ihren Kindern zunehmend entfremdet.

Denn während Marie nun Tag für Tag ins Flüchtlingszentrum geht und dort ihre wahre Bestimmung findet, wird zu Hause die Stimmung immer schlechter. Sie sieht ihre Familie immer seltener. Ihr Mann wirkt verständnislos, ihre Kinder werden ihr fremd. Sie wird eine "Flüchtlingshure" genannt.

Marie muss erleben, wie Isabelles Versteck auffliegt, wie das Flüchtlingszentrum geschlossen wird, wie ein Asylbewerber aus dem Irak bei einer hartherzigen Richterin kein Gehör findet, wie dieser, der sich von einem Schlepper nach England schmuggeln lassen wollte, auf der Flucht vor der Polizei unter die Räder kommt und stirbt.

Altruistischer Amoklauf

Am Ende wird Marie ein letztes Mal gegen die Gleichgültigkeit und Ungerechtigkeit rebellieren und Kleider und Essen an die Armen verteilen, doch ihr Altruismus gleicht einem Amoklauf. Am Ende wird ihr Mann Stephane ein letztes Mal versuchen, fröhliche Familie zu spielen, doch die Rückkehr in die Normalität ist unmöglich. Am Ende wird ein letztes Mal die Gewalt siegen und Marie, geschlagen, gewürgt und mit zerkratztem Gesicht, im Dreck liegen. Was bleibt, ist ein gebrochener Mensch, ein Fall für die Psychiatrie.

"Ich brach ein. Ich fühlte mich, als würde ich von innen in mich selbst hineingesogen, wie ausgeleert, als ob jemand mein ganzes Wesen ausgesaugt und verschluckt hätte. Ich fiel in mich zusammen, so leicht wie ein Laken, ganz leicht."

Sprödes, packendes, Monodram

Das Leben der kleinen Leute, die Sprachlosigkeit zwischen den Menschen, die Tristesse der Vorstädte und die soziale Kälte: Das sind die Themen von Olivier Adam. Geboren 1974 und aufgewachsen in der Pariser Banlieue, zählt Olivier Adam heute zu den erfolgreichsten französischen Autoren der jüngeren Generation. Sein Erzählband "Am Ende des Winters" gewann 2004 den Prix Goncourt, sein Roman "Keine Sorge, mir geht‘s gut", 2007 von Philippe Lioret verfilmt, wurde in Frankreich über 100.000mal verkauft und machte den Autor auch im deutschen Sprachraum bekannt.

"Nichts was uns schützt" ist Adams fünfter Roman: ein Roman über den Ausbruchsversuch aus einem zu engen Leben, geschildert aus der Perspektive der Eingesperrten; ein Roman über Momente einer Familienauflösung, verbunden mit Szenen des Immigrantenelends. Doch "Nichts was uns schützt" ist keine naturalistische Milieustudie, sondern ein sprödes und doch packendes Monodram - vorgetragen in ruhigem, fast gleichförmigem Erzählduktus, der leises Pathos durchaus zulässt, der früh das Unheil vorbereitet, immer grundiert von Adams Klage, die schon der Rhythmus der Sprache spürbar werden lässt - einer Klage über die Ohnmacht des Einzelnen und die Indolenz der Gesellschaft.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, jeden Freitag, 16:55 Uhr

Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Olivier Adam, "Nichts was uns schützt", aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz, Verlag Klett-Cotta

Link
Verlag Klett-Cotta