Erinnerungen zum 100. Geburtstag
Ein Leben für die Musik
"Er war ein Profi ohne Gloriole, ein Maestro ohne Mätzchen, ein Musiker mit stiller Weltkarriere - ein Fossil also in der Zunft der flotten Macher", hieß es 1996 in einem Nachruf auf den italienischen Dirigenten und Allroundmusiker Gianandrea Gavazzeni.
8. April 2017, 21:58
"Una vita per la musica" hieß die Auszeichnung, die die Mailänder Scala Gianandrea Gavazzeni nach 50 Jahren am Dirigentenpult verlieh, "Ein Leben für die Musik". Gianandrea Gavazzeni war kein Egomane, kein "genialer" Dirigent. Er war Wissenschaftler, Buchautor, Pianist, als Komponist Schüler des Spätromantikers Ildebrando Pizzetti, als junger Opernbesucher Toscanini-Bewunderer.
Aus Bergamo stammend wie Gaetano Donizetti, wurde Gavazzeni, sobald er das Komponieren im Alter von 40 Jahren zugunsten des Dirigierens aufgegeben hatte, zur treibenden Kraft der Donizetti-Renaissance der Callas- und Nach-Callas-Zeit. Eine andere Vorliebe von ihm galt den Nebenwerken der "Verismo"-Schule.
Als Verdi- und Puccini-Dirigent konnte Gianandrea Gavazzeni seine Stärken oft auch im Plattenstudio ausspielen, mit der sängerischen crème de la crème: Akribie und Unbestechlichkeit. Unter den vielen von ihm geleiteten Gesamtaufnahmen sind etliche, die bis heute nicht übertroffen wurden: von Mascagnis "L'amico Fritz" mit Mirella Freni und Luciano Pavarotti über Giordanos "Andrea Chenier" mit zugeschaltetem Verismo-Turbo und Tebaldi, del Monaco Bastianini in den Hauptrollen, bis zu Bellinis "Pirata" mit Montserrat Caballé.
Jugendeindrücke: Toscanini und Pizzetti
In der Donizetti-Stadt Bergamo ist Gianandrea Gavazzeni 1909 auf die Welt gekommen. Mutter: literarisch interessiert, Theatergeherin, Vater: Rechtsanwalt, Parlamentarier, leidenschaftlicher Musikliebhaber, Organisator von Opern-Stagioni.
Es hält sich die Geschichte, dass Gianandrea in den Armen der "nonna" schon Mascagnis "Isabeau" gehört hätte. Die musikalische Welt, aus der Gavazzeni kam, war die der "generazione dell'ottanta", die Welt der d'Annunizo-Opern, die überreife Romantik.
In Mailand studierte er Klavier und Komposition. Und er studierte Arturo Toscanini: Bei jeder Aufführung, die Toscanini zwischen 1924 und 29 an der Mailänder Scala dirigierte, will Gavazzeni dabei gewesen sein. Sein, immerhin ein Stück über Ottorino Respighi, hinaus ins Moderne tendierender Lehrer Pizzetti gab die Richtung vor, in die Gianandrea Gavazzeni in seinen eigenen Kompositionen ging, mit vielen Werktiteln, die so klingen, als hätte es der junge Mann darauf angelegt gehabt, ein Kleinmeister in Bergamo zu werden: vom "Concerto bergamasco" bis zu den "Canti per Sant'Alessandro", den Stadtpatron.
Gavazzeni als Wegbereiter der Donizetti-"Renaissance"
Nach ersten Schritten beim italienischen Rundfunk, nach ersten eigenen Opernversuchen, dirigierte Gianandrea Gavazzeni ab dem Jahr 1944 an der Mailänder Scala, anfangs vor allem Zeitgenössisches.
Daheim in Bergamo setzte er zum 100.Todestag des Komponisten Gaetano Donizettis "Requiem" an, sicher ohne zu ahnen, dass er damit einen Stein ins Rollen brachte: zur Donizetti-"Renaissance", an der Gavazzeni dann weiterhin großen Anteil hatte, nicht zuletzt mit der epochalen Scala-Premiere der "Anna Bolena" 1957, bei der sich Maria Callas und Giuletta Simionato Königinnen-Gefechte lieferten.
Bei alldem erwies es sich als inspirierend, dass Gavazzeni zwar primär Musiker war, aber auch Musikwissenschaftler und -schriftsteller. Schon unter seinen frühesten Arbeiten findet man Bücher über Donizetti und über "Spiriti e forme della lirica belliniana", also über "Geist und Formensprache der Bellini-Opern".
Polemisch, streitbar, unangenehm - Gavazzenis andere Seite
Es kam der Moment, an dem absehbar war, dass der Komponist Gianandrea Gavazzeni nie so erfolgreich sein würde wie der Dirigent. So legte Gavazzeni das Komponieren ad acta. Das Zeug zum "Star-Dirigenten" hatte er dennoch nicht, stand dieser Welt auch innerlich so fern wie möglich.
Übers "Regietheater" ließ er sich schon Mitte der 1950er Jahre aus, als dieser Begriff noch gar nicht existierte. Wer Gavazzeni als "Anwalt" der Komponisten oder ähnlich feierte, bekam entgegnet, Philologie sei nur ein anderer Name für Mangel an Inspiration.
Absolute Treue zum Notentext war für Gavazzeni gegen die ästhetischen Werte der Musik gerichtet und gegen ein Selbstverständnis des Musikers als Teil der Geschichte: "la storia che non e mai ferma" - die Geschichte, die niemals aufhört.
Aus allen diesen Episoden - bis hin zu öffentlichen Auftritten gegen Kultur-Sparmaßnahmen der italienischen Regierung oder einer scharfen Fehde mit dem Regisseur Luca Ronconi - entsteht das Bild eines Menschen mit enormer polemischer Energie, der es nicht darauf anlegte, "angenehm" zu sein. Dass der Dirigent Gianandrea Gavazzeni dabei dennoch seinen Weg machte, in Italien und international, ist ein halbes Wunder.
Die späten Jahre: "ein Profi ohne Gloriole"
Fast 50 Jahre lang war er kontinuierlich an der Mailänder Scala präsent, in den 1960er Jahren auch kurz als deren künstlerischer Leiter. Regelmäßig erlebte man ihn an sämtlichen bedeutenden Bühnen des Landes, außerdem bei Festivals. Hier nützte er die Chance, auch rare Opern der Verismo-Ära aufzuführen, beginnend mit "Le maschere" 1955 beim Maggio Musicale Fiorentino.
Wenn es ins Ausland ging, an die MET, nach Chicago, Aix-en-Provence oder nach Glyndebourne, dann vor allem für Donizetti, Verdi, Puccini - ohne dass beim klingenden Resultat überall der Stempel "Gavazzeni" drauf gewesen wäre: Donizetti blieb Donizetti, Verdi Verdi, Puccini Puccini. Und jeden Morgen, so verriet Gavazzeni bei einem seiner seltenen Wien-Auftritte in den 1980er Jahren, setzte er sich eine Stunde an den Flügel - und spielte Bach.
Im 87.Lebensjahr ist Gianandrea Gavazzeni 1996 gestorben, dirigiert hatte er, mit den strahlend weißen Haaren zuletzt, mit dem mönchischen Podiums-Gewand, bis fast zuletzt, ausgefallenen Donizetti in Bergamo, aber auch Massenets "Esclarmonde" in Turin, alles mit seiner jüngeren Frau Denia Mazzola Gavazzeni, die vorführte, wie Gavazzeni seinen "Belcanto" sah: nicht ästhetisierend fade, sondern von innen glühend.
Aus einem der deutschsprachigen Nachrufe: "Er war ein Profi ohne Gloriole, ein Maestro ohne Mätzchen, ein Musiker mit stiller Weltkarriere - ein Fossil also in der Zunft der flotten Macher".
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 23. Juli 2009, 15:06 Uhr