Liebe nach der Liebe
Die Vergangenheit
Alan Pauls' erster ins Deutsche übersetzte Roman ist eine Auseinandersetzung mit der pathologischen Seite der Liebe. Mit feiner Psychologie leuchtet der argentinische Erfolgsautor die seelischen Abgründe seiner Protagonisten aus.
8. April 2017, 21:58
Sie glaubten an ihre Art der Liebe, und dieser Glaube war stärker als jede Natur, als jedes Zeichen, durch das die Welt ihnen ihre Lüge oder ihre Lächerlichkeit vor Augen zu führen suchte. Sie waren arrogant und bescheiden, hochmütig und ausgesprochen zuvorkommend. Sie teilten ihre Probleme mit niemandem – es lag etwas Mafiöses, eine Art Korpsgeist und eine unverbrüchliche, von Liebe diktierte, aber durch Angst vor der Katastrophe geschürte Diskretion in der Art, wie sie Vertraulichkeiten vermieden.
Rímini und Sofía führen eine intensive, symbiotische Beziehung. Sie empfinden ihre Liebe als eine Art "höherer Ordnung", die alle Probleme absorbiert. Die beiden gelten im Bekanntenkreis als Traumpaar. Nach zwölf Jahren beschließen sie jedoch, getrennte Wege zu gehen, ruhig, zivilisiert, einvernehmlich.
Stalking Rímini
Während für den passiven und weichen Rímini ein neues Leben beginnt und er sich im Buenos Aires der 1980er Jahre in erotische Abenteuer und neue Beziehungen stürzt, bereut Sofía ihre Entscheidung und möchte Rímini um jeden Preis zurückhaben. Sie beginnt ihn mit Einladungen, Briefen, Anrufen zu verfolgen und instrumentalisiert gemeinsame Bekannte, um ihm Geschenke zu übermitteln. Rímini, dessen alte Liebe zu Sofía noch nicht ganz erloschen ist, fühlt sich erpresst und bedroht. Sofía wird immer mehr zu einem Schreckgespenst der Vergangenheit, das plötzlich auftaucht, lauernd liebenswürdig und vorwurfsvoll.
Sofía mischt sich immer wieder in Ríminis Leben ein, indirekt, durch kleine Interventionen. Aber auch wenn sie selbst nicht ihre Hände im Spiel hat, fühlt sich Rímini durch sie bedrängt - als einem Menschen, der ihn zu genau kennt.
Sofías Einfluss zerfraß die Außenhaut, die ihn gegen die Welt abschirmte, machte ihn durchsichtig, porös, so dass Rímini jetzt beim Gehen den wirbelnden Wind nicht mehr außen um seinen Körper spürte, sondern in seinem Magen, in seiner Lunge, als eisigen Griff um sein Herz. Er blieb stehen. Stand schwankend am Bordstein. Er empfand die untröstliche Mutlosigkeit eines Menschen ohne Geheimnisse.
Vergangenheit wird Gegenwart
Wann immer Sofía und Rímini aufeinandertreffen, wirft ihm Sofía vor, sich nicht an ihre gemeinsamen zwölf Jahre erinnern zu wollen. Je mehr aber Sofía Erinnerungen einfordert, umso mehr will Rímini vergessen - der bewunderte Fremdsprachenübersetzer versinkt in Kokainräuschen und Sexexzessen. Nach und nach verliert er alles: die Fähigkeit zu übersetzen, das Gefühl für sich selbst und schließlich seine soeben mit seiner Übersetzer-Kollegin Carmen gegründete Familie.
Nachdem Sofía seinen kleinen Sohn entführt hat und ihn nach kurzer Zeit mit einem Brief an Rímini zurückbringt, trennt sich Carmen von Rímini und lässt ihn nie wieder in die Nähe seines Kindes. Rímini stürzt in eine tiefe Krise, völlig heruntergekommen sitzt er in der Wohnung seines nach Uruguay ausgewanderten Vaters, die er verkaufen soll, und die er stattdessen immer mehr zumüllt.
Der Fitnesstrainer des Vaters nimmt sich Ríminis an, lässt ihn in seinem klösterlichen Sportstudio bei geregeltem Training und Essen wieder zu sich kommen und verschafft ihm einen Job als Tennislehrer. Doch Rímini ist verloren. Nach einer ausbeuterischen Affäre mit einer reichen Tennisschülerin, der er als Liebhaber und Laufbursche dient, und einem Gefängnisaufenthalt wegen des Diebstahls eines Bildes, kehrt er zu Sofía zurück. Die Vergangenheit, die ihn nie losgelassen hat, wird wieder zu seiner Gegenwart.
Nur warum begann in dem Maße, wie sie sich ihm näherte, alles um ihn herum, der Hintergrund und die Requisiten, die sie glaubhaft machten, ihr Wirklichkeit verliehen, wie eine Spiegelung im Wasser zu zittern und zu zerfließen, bis das Einzige, was übrig und sichtbar blieb, sie war, unversehrt und allein inmitten der Leere?
Erinnerungsarbeit
Schließlich wird Rímini zu Sofías Marionette, die sie triumphierend ihrer obskuren Frauengruppe, in die sie sich nach der Trennung geflüchtet hat, vorführt. Dort serviert er Tee und Orangenlikör und wird von den Frauen, die sich alle als Opfer ihrer übergroßen Liebe verstehen, als Hoffnungsträger dafür gefeiert, dass die Liebe zurückkehren kann, wenn sie durch Erinnerungsarbeit am Leben gehalten wurde.
Den Männern ein Gedächtnis machen, hörte er Sofía in ihrer Eröffnungsrede vor einer Handvoll irritierter Journalisten sagen, (...) so wie die Männer über Jahrhunderte hinweg den Frauen Kinder gemacht haben.
Seelische Abgründe
Alan Pauls Roman "Die Vergangenheit" ist keine eindimensionale Täter-Opfer-Geschichte. Sofía leidet genauso wie Rímini. Der schwache Rímini, der sich immer wieder auf Sofía einlässt, fördert durch seine Passivität und Nachgiebigkeit erst jene zerstörerischen Züge von Sofías Leidenschaft zu Tage. Alan Pauls erster ins Deutsche übersetzter Roman ist eine Auseinandersetzung mit der pathologischen Seite der Liebe und dem Schrecken der Symbiose. Mit feiner Psychologie leuchtet der argentinische Erfolgsautor die seelischen Abgründe seiner Protagonisten aus. In langen Schachtelsätzen mit ausufernden Einschüben und wuchernden Metaphern, schildert er den Prozess, der eine Leidenschaft destruktiv werden lässt, und zwei Liebende in eine Hölle aus emotionaler Erpressung, Verrat und Selbstaufgabe führt. Die Sexualität wird zum Schlachtfeld, die Suche nach Erfüllung zur Selbstzerstörung, die Erinnerung zu einer Art Zombie, der unheilstiftend in einer kraftlosen Gegenwart herumirrt.
Der Text stellt die Frage nach dem Sinn der Erinnerung oder besser: der Vergeblichkeit des Vergessens, das das Vergangene nicht löscht, sondern nur verschiebt. In einem Interview sagte der Autor einmal, dass das Vergessen eine Art Meißel sei, es rückt Dinge in den Schatten, aber nur, damit andere desto deutlicher hervortreten. Die Befreiung von der Vergangenheit ist eine Illusion, die Forderung nach Erinnerung ein sinnloser Götzendienst.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 4. Dezember 2009, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 6. Dezember 2009, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Alan Pauls, "Die Vergangenheit", übersetzt von Christian Hansen, Klett-Cotta
Link
Klett Cotta - Die Vergangenheit