Der Historiker Ian Kershaw analysiert

Warum Hitler den Krieg verlor

Am 1. September jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Der Historiker Ian Kershaw befasst sich in einem neuen Buch mit zehn Schlüsselentscheidungen zwischen Mai 1940 und Dezember 1941, die zur Niederlage Hitler-Deutschlands führten.

Hitler und der Judenhass

"Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen." So rechtfertigt Hitler am 1. September 1939 die Invasion Polens, mit der der Zweite Weltkrieg beginnt - ohne formelle Kriegserklärung und mit einer Lüge, denn die angeblichen polnischen Soldaten, die den Sender Gleiwitz besetzten und dabei auf deutschem Gebiet schossen, waren verkleidete SS-Leute.

Die seit Jahren aufgerüstete deutsche Armee hat mit Polen leichtes Spiel, in einem Monat ist der Feldzug beendet. Bereits am 3. September 1939 haben Polens Verbündete England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt, zu größeren Kampfhandlungen im Westen kommt es aber erst im Mai 1940, als deutsche Truppen die neutralen Benelux-Staaten überfallen und dann Frankreich angreifen. Auch hier rücken sie rasch vor: Am 14. Juni besetzen sie Paris, eine Woche später kapituliert Frankreich. Ein Großteil der in Frankreich stationierten britischen Truppen kann allerdings von Dünkirchen aus evakuiert werden, was es den Briten erleichtert, gegen Hitler weiterzukämpfen.

Hoffen auf die USA

Diese Entscheidung der Briten, den Krieg fortzusetzen, ist die erste jener Schlüsselentscheidungen des Zweiten Weltkriegs, die Ian Kershaw in seinem Buch beschreibt. Sie war zunächst keineswegs unumstritten. Churchills Vorgänger Chamberlain und Außenminister Halifax wollten eigentlich mit Hitler verhandeln, konnten sich aber nicht durchsetzen.

Beraten wurde, wie Kershaw erzählt, drei Tage lang im engsten Führungskreis der Koalition aus Konservativen und Labour-Party. Man ging davon aus, dass Hitler ein harter Verhandlungsgegner sein würde und den Briten neben Territorien auch die Flotte wegnehmen würde, erklärt der Historiker Kershaw: "Churchill sagte, wenn wir in dem Krieg bleiben und verlieren ist es nicht weniger schlimm, als wenn wir durch Verhandlungen zu einem deutschen Satellitenstaat reduziert werden. Also bleiben wir im Krieg und hoffen, dass uns die Amerikaner zu Hilfe kommen."

Konfrontation in Etappen

Um diese Hilfe der USA - politisch, wirtschaftlich und militärisch - bemüht sich Churchill intensiv bei Präsident Roosevelt und stößt bei diesem durchaus auf offene Ohren. Für Roosevelt ist der Kampf gegen die Nazis ein Kampf für die Freiheit und gegen unrechtmäßige, menschenverachtende Gewalt. Roosevelt weiß aber bei aller Sympathie für die Nazi-Gegner, dass die USA im Sommer 1940 für einen Krieg gegen Deutschland nicht gerüstet sind und dass ein solcher Krieg im Land auch nicht mehrheitsfähig wäre.

So führt er die USA in mehreren Etappen, die bis Herbst 1941 reichen, langsam, aber kontinuierlich in die Konfrontation mit Deutschland: Zunächst werden 50 Zerstörer an Großbritannien übergeben, dann wird das sogenannte Leih- und Pachtgesetz beschlossen, das Rüstungslieferungen an die Briten ermöglicht, ohne dass diese dafür bezahlen, und schließlich wird der Geleitschutz für amerikanische Schiffe im Atlantik auch auf britische Schiffe ausgedehnt - Zwischenfälle mit deutschen U-Booten sind damit unvermeidlich und finden ab August 1941 auch tatsächlich statt.

Stalin ignoriert Warnungen

Noch davor aber kommt es zu einer anderen Schlüsselentscheidung Hitlers: nämlich, die Sowjetunion anzugreifen, mit der er seit September 1939 verbündet ist und mit der er sich 1940 Polen aufgeteilt hat.

Das Bündnis freilich ist nur zum Schein, Hitler will den Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten seit langem aus ideologischen Gründen. Dafür nimmt er in Kauf, in einen Zweifrontenkrieg verwickelt zu werden, denn England ist ja keineswegs besiegt, als Deutschland die Sowjetunion überfällt.

Am 21. Juni 1941 fallen die deutschen Truppen in der Sowjetunion ein - und sie treffen dort zunächst kaum auf Widerstand, die Rote Armee und die sowjetische Führung sind von der Invasion völlig überrascht. Erst acht Tage später trifft man Gegenmaßnahmen und ruft den "Großen Vaterländischen Krieg" aus. Am 3. Juli 1941 ernennt sich Diktator Stalin selbst zum Vorsitzenden des Verteidigungskomitees und ruft in einer Radiorede zu entschiedenstem Widerstand auf.

Im Vorfeld des deutschen Angriffs hat Stalin zahlreiche Warnungen erhalten - von den USA, von Großbritannien, sogar vom sowjetischen Geheimdienst, er hat sie aber nicht geglaubt. Er glaubte der deutschen Desinformation, die die Vorbereitungen des Überfalls natürlich verschleiern wollte. Wie konnte sich Stalin so irren? Ian Kershaw ist davon überzeugt, dass Stalin durchaus mit einem Überfall Hitlers rechnete, allerdings erst einige Jahre später: "Stalin ging von seiner eigenen Mentalität aus und dachte, Hitler kann nicht so verrückt sein und einen Krieg im Osten entfachen, wo der Krieg im Westen noch nicht beendet ist."

Hitler will Roosevelt zuvorkommen

Im Dezember 1941 wird der bisher europäische Krieg endgültig zu einem Weltkrieg. Das mit Deutschland verbündete Japan greift den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour auf Hawaii an und versenkt einen Großteil der US-Pazifikflotte. Unmittelbar auf den Ausbruch des Krieges zwischen Japan und den USA folgt ein Schritt, den viele Historiker immer noch für schwer erklärbar halten: Am 11. Dezember 1941 erklärt Deutschland den USA den Krieg.

Hitler hat für seine Entscheidung, nun auch den USA mit ihrer mittlerweile hochgerüsteten Armee und ihren ungeheuren Ressourcen den Krieg zu erklären, laut Ian Kershaw, im Wesentlichen drei Motive: "Erstens, dass Japan in dem Krieg bleibt und Amerika im Pazifik bekämpft, zweitens, dass man deswegen die Chance hätte, im Atlantik zu siegen, und ein dritter Gesichtspunkt für Hitler war Propaganda und Prestige. Er wusste, dass der Konflikt mit den USA unausweichlich war und wollte Roosevelt zuvorkommen."

Krieg gegen das "Judentum"

Aber die Sowjetunion, die mittlerweile ebenso wie Großbritannien von den USA mit Wirtschaftshilfe und Rüstungslieferungen unterstützt wird, hält der deutschen Invasion zunehmend stand. Und nach dem Sieg von Stalingrad zur Jahreswende 1942/43 kann sie zum Gegenangriff übergehen. Dass die USA in den Krieg eingetreten sind, führt allmählich auch im Westen die Entscheidung herbei: Die Landung der Alliierten in Sizilien im Juli 1943 und vor allem die Invasion in der Normandie im Juni 1944 bringen die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands immer näher.

Ungeachtet dessen - oder gerade deswegen - treibt Hitler ein Vorhaben voran, das er schon seit langem verfolgt und das als unvergleichbares Verbrechen in die Geschichte eingehen wird: die Ermordung der europäischen Juden. Und er verschweigt seine Absicht keineswegs. Immer wieder wiederholt er öffentlich, dass er den Krieg als endgültige Auseinandersetzung mit dem sieht, was er als Judentum bezeichnet.

Demokratien agieren rationaler

Kershaw sieht auch bei den anderen Entscheidungen im Zweiten Weltkrieg einen Mix aus der Rolle der handelnden Personen und aus gesellschaftlichen Entwicklungen. Und er vergleicht die Entscheidungsprozesse der verschiedenen politischen Systeme: die Diktaturen Hitlers, Mussolinis und Stalins, die Demokratien in den USA und in Großbritannien und das autoritär-bürokratische System Japans. Dass die Demokratien letztendlich siegen, liegt seiner Meinung nach zwar einerseits an deren wirtschaftlicher Überlegenheit, andererseits aber auch an den zwar langsameren, aber rationaleren und realitätsnäheren Entscheidungsprozessen.

Hör-Tipp
Journal Panorama, Dienstag, 25. August 2009, 18:25 Uhr

Buch-Tipp
Ian Kershaw, "Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen des Zweiten Weltkrieges", Deutsche Verlags-Anstalt

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Deutsche Verlags-Anstalt