Umweltsünden des American Way of Life

Over

Seit vielen Jahren verfolgt der Pilot Alex MacLean von seiner Cessna aus, wie sich die Landschaft unter ihm verändert. Der mittlerweile 62-Jährige ist aber nicht nur Pilot, sondern auch noch Fotograf. Mit seinem Bildband "Over" hofft er auf ein Umdenken.

Es steht in einer menschenleeren Landschaft: das neogotische Kirchlein, das zu Spinnerstown in Pennsylvania gehört. Angebunden an eine zweispurige Straße, wird es umschlossen von grünen Wiesen, einem symmetrisch angelegten Friedhof - und zwei riesigen Parkplätzen. Kaum vorstellbar, dass das Gotteshaus so viele Kirchgänger aufnehmen könnte wie der Parkplatz PKWs. Als Alex MacLean mit seinem Flugzeug hier vorbeiflog, war offensichtlich kein Sonntag: kein Mensch, kein Auto weit und breit, der Parkplatz gähnend leer. Die bunte Pseudoidylle - sie zeigt die absurde Disproportion von Mittel und Zweck: hier der kleine Ort der Andacht, da die ausgedehnte Stellfläche für den Fuhrpark der Gemeinde, zwei unschöne Asphalt-Schneisen in blühender Landschaft.

Alex MacLeans Aufnahme von der kleinen Kirche mit den großen Parkplätzen findet sich im jüngsten Buch des amerikanischen Fotografen, einem opulenten Bildband mit mehr als 240 schrecklich-schönen Luftbildaufnahmen. McLean hofft, mit seinem Buch ein bisschen Einfluss auf die Landschaftsgestalter zu nehmen.

Eine Bestandsaufnahme

In neun Kapitel gliedert Alex MacLean seine Bestandsaufnahme der amerikanischen Landschaftszerstörung - von Atmosphäre bis Stadtentwicklung, von Stromerzeugung und Wasserverbrauch bis zum Anstieg des Meeresspiegels, von der Abhängigkeit vom Auto bis zur Bedrohung der Wüsten.

Oft ist das Prekäre der Umweltentwicklung, die dem Wohlstands-, Expansions- und Mobilitätsdrang des American Way of Life geschuldete Zerstörung der Naturlandschaft, erst auf den zweiten Blick zu erfassen - oder nur durch MacLeans erläuternde Bildlegenden. Auf den ersten Blick sieht man manchmal nur sich kunstvoll verschlingende graue Bänder, geometrische Lineaturen auf silber-grünem Grund oder abstraktes grau-grünes Gesprenkel, das an Jean Dubuffets Art brut erinnert. Und doch hat man es mit einem Highway-System zu tun, mit künstlich bewässerten Reisfeldern oder den Erosionen einer Strauchwüste in Nevada.

Künstler und Umweltexperte

Ich habe mich schon immer für Fotografie interessiert, sagt Alex MacLean, der nach der Highschool Architektur studierte und so zur Luftbildfotografie kam: um Bauprojekte im geografisch-räumlichen Kontext zu verstehen.

Aus dem Architekturstudenten wurde ein Chronist, aus dem Chronisten ein Künstler, aus dem Künstler ein Umweltexperte. Alex MacLean fotografiert und recherchiert, er schafft Dokumente und Kunstwerke zugleich. Sie zeigen - immer aus der Vogelperspektive - Straßennetze und Kraftwerke, Hochhäuser und Hochspannungsleitungen, Eigenheimsiedlungen und Wohnmobilparks, Einkaufszentren und Ackerflächen, Golfplätze und Solaranlagen. Und illustrieren die Kehrseite von Konsumgier und Eigenheimträumen: den gigantischen Energiebedarf und das Verschwinden der Landschaft.

Spaß an der Arbeit

250 Stunden im Jahr sitzt Alex MacLean in seinem kleinen Sportflugzeug, immer allein, und wenn er ein interessantes Motiv entdeckt - ein Bodenraster in der Wüste, ein abgebranntes Erntefeld oder einen überfüllten Autofriedhof -, dann stellt er seine Maschine quer, öffnet das Fenster und greift zur Kamera.

Es ist ein Spaß, sagt der Flug- und Foto-Artist über seine Arbeit, ein Spaß, den er bislang ohne dramatische Unfälle erlebte. Nur ein Objektiv, das nicht korrekt aufgesteckt war, kam ihm einmal abhanden.

Erklärende Texte

Von seinem Wohnort Boston aus erkundet MacLean die amerikanische Topographie - Küsten, Wüsten, Städte, Landwirtschaft. Industriegebiete, Shopping Malls, Autobahnen. Er zeigt eine Siedlung von Fertigbau-Eigenheimen mit bewässerten Golfplätzen in der Wüste von Arizona und die purpurn schimmernden Riesenhotels am Las Vegas Strip, ein Wohnmobil-Dorado am Strand von Florida oder das Rentnerdomizil "Sun City" bei Phoenix - dicht nebeneinander stehende Bungalows mit Palme, Pool und Seezugang. Und er zeigt die Folgen eines energieverschlingenden Immobilienbooms und Freizeitverhaltens: Kraftwerke, Staudämme, Raffinerien.

MacLean beschreibt, was nicht zu sehen ist: dass das Kraftwerk in Euharlee, Georgia, einen jährlichen Ausstoß von über 18 Millionen Tonnen Kohlendioxid und knapp einer halben Million Tonne Quecksilber verursacht und jenes in Brayton Point, Massachusetts, täglich fast vier Milliarden Liter Wasser benötigt, das viel zu warm wieder rückgeführt wird und damit Fischpopulationen und maritime Lebensräume zerstört; dass die in Amerika so populären Wohnmobile 25 Liter Sprit auf 100 Kilometer fressen oder dass der Stromverbrauch für die Beleuchtung der Las-Vegas-Hotels dem von fast 24.000 Häusern entspricht; dass der See des Rentnerparadieses "Sun City" mit Plastik ausgekleidet ist, damit das künstlich zugeführte Grundwasser nicht versickert, denn es wird zur Bewässerung der Golfplätze benötigt, und dass Bundesstaaten wie Arizona oder Nevada fünf Prozent ihres verfügbaren Wassers allein für Golfplätze verbrauchen.

"Over" nennt Alex MacLean seine ebenso beeindruckende wie beängstigende Luftbild-Chronik, und man gewinnt den Eindruck, dass dieses "over" nicht nur eine Perspektive meint, sondern eine Entwicklung: eine Entwicklung, die das Ende der Landschaft bedeuten könnte. Es muss sich was ändern, so MacLean.

Umdenkprozess beginnt

So schön diese präzis strukturierten Luftbilder auch sind, so alarmierend ist ihre Botschaft. Doch Alex MacLean macht nicht in Endzeit- oder Katastrophenstimmung. Er sieht auch Alternativen. In der kalifornischen Wüste fotografierte er die größte Solaranlage der Welt und in einer Steppe in Texas ein Feld mit Windturbinen. Und nicht von ungefähr schließt sein Buch mit dem Kapitel Stadtentwicklung. Das Wohnen im verdichteten urbanen Raum ist die ökologische Alternative zum Einfamilienhaus auf dem Land, meint MacLean und fordert, mehr in unsere Städte zu investieren, sie grüner und Fußgänger-freundlicher zu machen.

Seit mehr als dreißig Jahren verfolgt Alex MacLean, wie sich die Folgen von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und flächenintensiver Bebauung gegenseitig verschärften - und die amerikanische Umweltpolitik tatenlos zusah. Erst jetzt, in der Krise, macht sich ein Umdenkprozess bemerkbar. Vielleicht kommt ja ein Ende des American Way of Life einem Ende der Landschaft zuvor. Und Alex MacLean wird eines Tages Fotos machen, die schön, aber nicht schrecklich-schön sind.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Alex MacLean, "Over. Der American Way of Life oder Das Ende der Landschaft", Verlag Schirmer/Mosel