Lyrische Miniaturen

Lüge

Eine leise, aber unüberhörbare Stimme der russischen Moderne sei Viktor Hofmann, sagt dessen Übersetzer Alexander Nitzberg, der die Prosa des früh verstorbenen Dichters knapp ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung zum ersten Mal ins Deutsche übertragen hat.

Viktor Hofmann ist ein Kind seiner Zeit, seine Literatur drückt das Lebensgefühl der versunkenen Kultur des Fin de Siècle aus. Die Sprache der Kindheit des 1884 in Moskau Geborenen war Deutsch, Hofmann ist mit Goethe und den deutschen Dichtern der Romantik groß geworden. Sein Vater war österreichischer Möbelfabrikant, seine Mutter halbdeutscher Herkunft, ein Onkel väterlicherseits wirkte als Hofarchitekt von Kaiser Maximilian von Mexiko und stand später im Dienst des bayerischen König Ludwig II.

Literarisches Vermächtnis

Das eigenwillige Genre der hofmannschen Kurzprosa erinnert formal ein wenig an die lyrischen Prosaminiaturen Peter Altenbergs, auf den heutigen Leser wirken die Texte zuweilen etwas schwülstig und überspannt, und das macht die Erstrezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht leicht.

Um in die seelische Befindlichkeit einer uns fremd gewordenen Gefühlskultur einzutauchen, ist hilfreich, was in der Literaturwissenschaft verpönt ist: das Werk biografisch zu erschließen, denn es handelt sich um das literarische Vermächtnis eines zu seiner Zeit zwar als großes Talent Eingeschätzten, der aber inmitten einer früh abgebrochenen Entwicklung stand, als er mit erst 27 Jahren den Freitod wählte.

Gib mir die Hand: Weißt du, mir scheint, dass alles erstirbt. Denn auch das Blühen der Rosen war nur deren langsames Absterben. Alles Leben ist ein Ersetzen von Teilchen durch andere - die erkämpfen sich ihren Platz zum Sterben. Alles Leben verändert sich, und alles Verändern heißt Tod. Denn auch die Zellen deiner Hand verdrängen sich gegenseitig, möglicherweise ist es auch längst nicht mehr die Hand, die ich aus deinem Schoß gehoben habe. Und ich selbst lebe und verändere mich auch, und das heißt, dass ich jede Sekunde ein Anderer bin, dass ich mit jedem Atemzug sterbe.

Zeichnungen in Worten

Tod und Vergänglichkeit, Wehmut und Einsamkeit sind Leitmotive der impressionistischen Prosaskizzen, die Hofmann selbst "Miniaturen" oder "Etüden" nannte, "phantastische Märchen aus dem alltäglichen Leben". Diese Miniaturen sind kleinformatige Zeichnungen in Worten, Lyrik in Prosa: Auf wenigen Seiten schildert der Dichter Momentaufnahmen von Begegnungen und Begebenheiten, deren Grundstimmung Sehnsucht, unerfüllte Liebe, Schmerz, Täuschung und Enttäuschung ist, und hinter allem lauert die rätselhafte Schicksalhaftigkeit des Lebens.

In betörend schöne Metaphern kleidet Hofmann seine Prosa, etwa: ein See, der "unfreundlich seine Wellen rollen ließ, wie Stirnfalten einer steten Sorge", aber vor allem in solche der Todessehnsucht: Der Gang entlang einer mit trockenen Blättern gesäumten Allee erscheint ihm wie "goldener Brokat raschelnder Leichen". An anderer Stelle vergleicht er den mit bunten herbstlichen Blättern bedeckten Park mit einem üppigen Teppich, "als wäre der Erde ein gold- und purpurbesticktes Leichentuch bereitet".

"Schlangenungetüm" Stadt

Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Großstadt, und auch hier fehlt die Todesmetapher nicht.

Es ist jetzt ganz dunkel und seltsam und unheimlich hier geworden. Wie ein riesiger, wühlender Leib kriecht und wälzt sich der Boulevard. Windet sich wie ein Schlangenungetüm, kommt jedoch nicht von der Stelle, von der eigenen Verwesung entkräftet. Unter den leichenfahlen Dächern der Bäume brennen trübe Laternen. Oder sind es nur gelbe Flecken auf dem Leib der riesigen Schlange, die in der eigenen Verwesung wühlt?

Der junge Dichter hat als Lyriker begonnen und ist nach dem Erscheinen des zweiten Gedichtbandes zur Prosa übergewechselt. Seinen eigenen Stil hat er schon früh gefunden und auch theoretisch begründet: Mystischen Intimismus nennt er ihn in seinen frühen poetologischen Essays.

Er schrieb für Zeitungen und verdiente damit neben seiner Tätigkeit als Hauslehrer seinen Lebensunterhalt und finanzierte sein Jura-Studium. Nach dem Studium übersiedelte er nach Petersburg, arbeitete als Redakteur und übersetzte Dramen von Friedrich Hebbel, sowie Novellen von Guy de Maupassant und Heinrich Mann.

Sehnsucht nach Schönheit

In der Literaturszene fand Hofmann Freunde und Anerkennung, er war mit den Symbolisten Valerij Brjussov und Konstantin Balmont befreundet, zu seinen Bekannten zählten Mandelstam und Majakovskij. "Das Hässliche", schrieb Valerij Brjussov über ihn, "war Hofmann organisch fremd. Im Leben, in der Welt existiert aber vieles, was weder schön noch anmutig ist und was er instinktiv mied."

"Fliederduft" ist eine seiner lyrischen Impressionen übertitelten, Sehnsucht nach Schönheit im Wortsinn:

Auf seltsame Weise erinnert mich dieser Duft an eine junge Frau, eine feinsinnige Frau mit einem elastischen Körper und strahlend-strengen Augen. Ich liebte sie so, wie sich nur eine Blume lieben lässt, innig behutsam, entzückt. Ich liebte sie wie eine Blume, in deren Nähe ich mich wieder als Teil der Natur empfand, wie eine Blume, die mir Schönheit und Harmonie zugänglich machte. Ihre Seele war offen für alle Töne, für alle Gerüche, für alle Stimmen und Strahlen der sprießenden Welt, und wenn ich ihr in die Augen schaute, bemüht, durch diese ganz tief in ihre duftende Seele zu dringen, dann glaubte ich, selbst eine Blume zu sein, dann glaubte ich, dass meine Seele sich öffnet, warme Strahlen empfängt, dass meine Seele erblüht.

Der Konflikt zwischen Sinnlichkeit und körperlichem Begehren einerseits und seelischer Liebe andererseits durchzieht alle Texte Viktor Hofmanns, zu diesem Thema arbeitete er auch an einer Romantrilogie, die er später jedoch offenbar vernichtete.

Seelisch orientierungslos

"Sie alle sind zermartert von unerträglicher Phantasie", heißt es an einer Stelle und damit trifft Hofmann nicht nur den Ton seiner Zeit, er selbst ist Symptomträger dieser einem Ästhetizismus verfallenen Decadence. In seinem eigenen Leben vermochte er keinen seelischen Halt zu finden; er litt an der Krankheit seiner Zeit, Neurasthenie, was man mit Nervenschwäche oder besser: seelischer Orientierungslosigkeit übersetzen könnte, und er erschoss sich nach einer Sommerreise nach Schweden 1911 in einem Pariser Hotelzimmer, nachdem er verkündet hatte, verrückt geworden zu sein.

In der mit "Gestorben" übertitelten Prosaminiatur hat er seinen eigenen Tod gewissermaßen vorweggenommen, als der Erzähler vom unerwarteten Tod eines Bekannten erfährt.

Gestorben ... Aber er liebte das Leben und wollte nicht sterben. Folglich ist dies gegen seinen Willen geschehen? Warum sagen wir dann "gestorben", anstatt "ermordet" - ermordet durch etwas Stärkeres als er, das ohne Rücksicht gewesen ist auf ihn oder seinen Willen?

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Viktor Hofmann, "Lüge. Die Erzählungen", aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg, Lilienfeld Verlag

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Lilienfeld Verlag