Warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht
Die afghanische Misere
Der deutsch-türkische Journalist Can Merey hat für sein Buch Lokalkolorit zusammengetragen. Es ergänzt die Eindrücke und Erfahrungen, die er als Afghanistan-Korrespondent für die Deutsche Presseagentur in den vergangenen sechs Jahren gesammelt hat.
8. April 2017, 21:58
22 Kapitel umfasst das Buch von Can Merey und fast jedem der Kapitel ist ein Foto vorangestellt, das einen Menschen zeigt, den er bei seinen Reportagen in einem der vielen Landesteile von Afghanistan kennengelernt hat. Es sind Afghanen aus allen Bevölkerungsschichten, darunter auch Taliban und sogar zwei - zum Glück verhinderte - Selbstmordattentäter; es sind aber auch zahlreiche Ausländer darunter, die in Afghanistan tätig sind - Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfer. Sie alle lässt Can Merey zu Wort kommen und so ein vielstimmiges und multiperspektivisches Porträt der Krisenregion Afghanistan entstehen.
Eine Art Befreiung
Den Beginn macht dabei der afghanische Journalist Farhad Peikar, der die Bürgerkriegsjahre von 1992 bis 1996 in Kabul miterlebt hat. Er schildert, unter welchen Umständen die Taliban damals die Macht in der Stadt und im ganzen Land übernahmen und wie ihre Machtübernahme zunächst von vielen als eine Art Befreiung erlebt wurde.
Die Taliban schrieben mir vor, keine Musik zu hören, aber immerhin schossen sie keine Raketen ab, um mich zu töten. Für jemanden aus dem Westen mag das schwer zu verstehen sein, aber wenn du kurz davor warst, getötet zu werden, dann bist du einfach froh darüber, dass du wenigstens in Sicherheit bist.
Westliche Werte verankern
Ebenfalls gleich am Beginn seines Buches macht Can Merey deutlich, was für ein konservatives, ja archaisches Land Afghanistan ist. Um das zu eindrucksvoll zu veranschaulichen, genügt ihm ein kurzer Hinweis auf den Nationalsport.
Afghanistans Nationalsport heißt Buskaschi, übersetzt bedeutet das "Pack die Ziege", und damit sind die Regeln im weitesten Sinne schon erklärt. Wilde Männer auf Pferden kämpfen um einen Kadaver; wenn keine Ziege zur Hand ist, darf es auch ein Kalb sein. (...) In dieser martialisch geprägten Kultur beginnt die internationale Gemeinschaft nach dem Sturz der Taliban mit dem Versuch, westliche Werte zu vermitteln und eine Demokratie zu verankern.
Dieser Versuch zeitigte durchaus Erfolge. Anfang 2004 trat etwa eine Verfassung nach westlichem Modell in Kraft. Im Oktober 2004 folgten die Präsidentenwahlen - die ersten freien und demokratischen Wahlen in der Geschichte Afghanistans.
Islam als Staatsreligion
Doch bei all diesen Demokratisierungsschritten nach westlichem Vorbild blieben grundsätzliche Widersprüche bestehen. Für die Weltöffentlichkeit sichtbar wurde der fundamentale Gegensatz zwischen äußerer, westlicher Form und archaisch-traditionalistischem Kern im März 2006, als ein Afghane zum Tode verurteilt wurde, weil er zum Christentum konvertiert war. Ein einfacher und zugleich komplizierter Fall, denn die neue afghanische Verfassung schreibt in Artikel 2 und 3 den Islam als Staatsreligion und damit die Scharia als Quelle der Rechtsprechung fest.
Die Scharia, die islamische Rechtsordnung, ist eindeutig: Wer sich vom Islam abwendet, wird zum "Murtad", zum Abtrünnigen, und muss dafür mit dem Tode bestraft werden. Zugleich heißt es aber in Artikel 7: "Der Staat achtet die Charta der Vereinten Nationen, die internationalen Verträge und Konventionen, denen Afghanistan beigetreten ist, sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte."
Der afghanische Präsident Karsai bewahrte den Konvertiten schließlich vor der Hinrichtung. Aber nur, indem er mit seiner Intervention gegen geltendes Recht verstieß, denn nach Artikel 116 der afghanischen Verfassung ist die Justiz eigentlich unabhängig - auch und gerade von der Einflussnahme des Präsidenten.
Begeisterung für Konsumtempel
Diese Widersprüche und dieses Nebeneinander von Fortschritt und Rückständigkeit finden sich nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Alltag der Afghanen. Da gibt es zum einen unleugbare Verbesserungen und auch unübersehbare Modernisierungsschübe. Dazu gehört etwa die Eröffnung des ersten Einkaufszentrums in Afghanistan. Das "Kabul City Centre" ist eine Shopping Mall ganz nach westlichem Vorbild, die im Herbst 2005 erstmals ihre Pforten öffnete.
Viele Afghanen sind von dem Konsumtempel begeistert. "Das ist echte Entwicklung", sagt Abdul Fatah, der sich gerade als einer der ersten Kunden eine silbrig glänzende Armbanduhr gekauft hat. "Ich wünschte, ganz Afghanistan wäre voll mit Einkaufszentren."
Doch die Wirklichkeit in Afghanistan sieht anders aus: Der Wiederaufbau stockt an vielen Orten, Hilfsgelder versickern und es fehlt in vielen Teilen des Landes nach wie vor an Grundlegendstem, allem voran an Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung, die dadurch auch in den Drogenanbau gedrängt wird.
Keine Ordnungsmacht
Nicht gelungen ist auch der Aufbau einer afghanische Ordnungsmacht in Form von Polizei und Militär, die die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten könnte. Für Schutz und Sicherheit der Bevölkerung sind immer noch primär die 65.000 in Afghanistan stationierten Soldaten der Internationale Afghanistan Schutztruppe ISAF zuständig - oder sie wären dafür zuständig, denn sie sind zu wenige, um diese Aufgabe auch erfüllen zu können.
Die ISAF beklagt immer wieder, sie habe zwar ausreichend Soldaten, um die Taliban aus Gegenden zu vertreiben, in die die Rebellen einsickern. Doch fehle ihr die Truppenstärke, um die Regionen dann auch zu halten. Die Folge: die ISAF zieht sich nach Gefechten oft wieder aus dem Kampfgebiet zurück, die Taliban kehren bald darauf wieder.
Dadurch entsteht ein Teufelskreis, denn die Afghanen, die von den internationalen Truppen keinen Schutz erhalten oder die - noch schlimmer - bei Gefechten zwischen die Fronten geraten und deren Angehörige und Freunde dabei in nicht wenigen Fällen von westlichen Soldaten getötet werden, die wenden sich in der Folge vom Westen ab und denen zu, die ihnen Ordnung und Sicherheit versprechen - und das sind die Taliban. Hinzu kommt: Verschlechtert sich in einem Gebiet die Sicherheitslage, dann ziehen auch die Hilfsorganisationen ab und der zivile Wiederaufbau kommt zum Erliegen.
Schleichender Verlust der Freiheiten
Wegen der unsicheren Lage ist vor allem im Süden des Landes, traditionell eine Hochburg der Taliban, der Wiederaufbau auch nie so recht in Gang gekommen. Ein schweres Versäumnis, wie Can Merey gegen Ende seines Buches moniert, denn der Süden Afghanistans ist ebenso wie der Norden Pakistans Paschtunengebiet. Da es dem Westen nach dem Fall der Taliban nicht gelang, dieses Gebiet militärisch zu stabilisieren und infrastrukturell zu modernisieren, hat der Konflikt nun auch auf Pakistan übergegriffen und die dort lebenden Paschtunen radikalisiert. Dadurch ist eine völlig neue Situation entstanden.
Das Buch von Can Merey ist dort am eindringlichsten, wo es den schleichenden Verlust der nach dem Sturz der Taliban 2001 gewonnenen Freiheiten schildert. Ab etwa 2007 setzt dieser sukzessive Verlust von alltäglichen Freiheiten und Unbeschwertheiten ein. Plötzlich sind es wieder Kleinigkeiten und auch Äußerlichkeiten, die über Leben und Tod entscheiden können. So wird verständlich und nachvollziehbar, warum viele Männer - zur eigenen Sicherheit - mittlerweile wieder Bärte und Frauen wieder Burkas tragen.
Dabei wäre, so Can Merey, die afghanische Bevölkerung mit einer besseren und zielgerichteten Entwicklungshilfe zu gewinnen - einer Entwicklungshilfe, die zur Not auch den korrupten Regierungs- und Beamtenapparat umgeht, um endlich dort anzukommen, wo sie so dringend erwartet wird.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Can Merey, "Die afghanische Misere. Warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht", Wiley Verlag
Link
Wiley Verlag - Die afghanische Affäre