Trennung von Staat und Religion

Europas Angst vor der Religion

Jede Anschuldigung gegen den Islam, eine anti-moderne Religion zu sein, hätte vor nicht allzu langer Zeit auch gegen den Katholizismus gerichtet werden können, meint José Casanova in seinem Buch. Vor dem Islam an sich müsse man sich also nicht fürchten.

Im Mittelalter waren in Europa Religion und Staat noch untrennbar miteinander verbunden. Das führte zu brutalen Religionskriegen, die die europäischen Gesellschaften in Schutt und Asche legten. Die Säkularisierung der Gesellschaft war die Antwort auf diese Verwerfungen, die noch immer tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Spätestens seit der Aufklärung sind im modernen Europa Religion und Politik getrennt.

Die Europäer lernten, die religiösen Leidenschaften zu zähmen und obskurantistischen Fanatismus abzubauen, indem man die Religion in eine abgeschirmte private Sphäre verbannte, und gleichzeitig eine offene, liberale und säkulare Sphäre etablierte, in der freie Meinungsäußerung und öffentliche Vernunft dominieren.

Der Religionssoziologe José Casanova nennt das die "Basiserzählung der modernen Trennung von Religion und Politik", die heute in Europa nicht mehr hinterfragt wird. Diese Trennung wird als Voraussetzung für die demokratische Entwicklung gesehen. Und das stimme so nicht, meint der Religionssoziologe, denn die Säkularisierung der europäischen Staaten kam erst viel später als die Demokratisierung. Auch bedeutet das Zurückdrängen der Religion noch lange nicht, dass sich ein Staat zwangsläufig demokratisch entwickle. Man denke nur an die Sowjetunion. Die war durch und durch säkular; und durch und durch antidemokratisch.

Das "Fremde an sich"

Die Frage nach der Trennung von Staat und Religion ist keineswegs eine historische. Die Diskussion rund um die EU-Erweiterung hat das gezeigt. Soll und darf die Türkei Mitglied in der EU werden? Die Türkei ist für José Casanova von besonderer Bedeutung, stellt sie doch den Anspruch, gleichzeitig ein modernes europäisches und ein kulturell muslimisches Land zu sein. Das bringe die europäischen Vorstellungen von staatsbürgerlicher Identität durcheinander.

Der Islam gelte heute als das "Fremde an sich", meint José Casanova, ihm werden alle Dimensionen von "Andersartigkeit" übergestülpt. Der heutige weltweite Diskurs über den Islam als eine fundamentalistische, undemokratische und sexistische Religion ähnle jenem Diskurs, den die protestantischen Gesellschaften von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts über den Katholizismus geführt haben, so der Autor.

Jede Anschuldigung gegen den Islam, eine fundamentalistische, anti-moderne, anti-westliche Religion zu sein, hätte vor nicht allzu langer Zeit gerechtfertigterweise auch gegen den Katholizismus gerichtet werden können. Mehr noch, die meisten Wesenszüge des heutigen politischen Islam, die westliche Beobachter so verwerflich finden, können in der nicht allzu fernen Geschichte vieler westlicher Länder und der vieler moderner säkularer Bewegungen gefunden werden.

Aber ist das eben nicht genau der Unterschied? Dass die westlichen Staaten die Säkularisierung bereits hinter sich haben? Während dem Islam dieser schmerzhafte Prozess noch bevorsteht? Das sei schon richtig, schreibt José Casanova, aber eben nicht die ganze Wahrheit.

Keine Angst vor Religiosität

José Casanova geht es in seinen Aufsätzen um etwas anders. Er will zeigen, dass die "Religion" an sich keine ernsthafte Gefahr für die europäischen Staaten darstelle. Und dass man sich vor der Wiederkehr der Religiosität in der europäischen Öffentlichkeit nicht fürchten müsse.

Warum man es doch tue? Das hängt laut Casanova damit zusammen, dass in Europa drei Elemente der Säkularisierung zeitlich zusammengefallen sind, die sich aber nicht gegenseitig bedingen: die Theorie der institutionellen Trennung von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft von religiösen Normen und Institutionen; zweitens die Theorie eines fortschreitenden Niedergangs religiöser Überzeugung mit dem Grad der Modernisierung; und drittens die Theorie der Privatisierung der Religion als Voraussetzung für eine moderne, demokratische Politik. Vereinfacht gesagt, glaubt man in Europa, dass ein Staat umso moderner und demokratischer ist, je mehr die Religion ins Private gedrängt wird. Es genügt schon ein Blick in die USA, um zu sehen, dass diese Theorie so nicht stimme, schreibt José Casanova.

In den Vereinigten Staaten kann man einen paradigmatischen Prozess der säkularen Differenzierung beobachten, der indes weder von einem Prozess des religiösen Niedergangs noch von einer Beschränkung der Religion auf den privaten Bereich begleitet ist. Prozesse der Modernisierung und der Demokratisierung in der amerikanischen Gesellschaft waren oftmals von einer religiösen Erweckung begleitet.

Fragen neu stellen

José Casanovas Essays über Politik, Gesellschaft und Religion sind keine leichte Lektüre. Der Religionssoziologe bietet auch keine einfachen Lösungen an. Er zeigt aber Brüche und Fehler in den aktuellen Diskussionen auf. Und er weist darauf hin, dass die Fragen, die die aufgeklärte westliche Gesellschaft in Bezug auf Religion für längst beantwortet gehalten hat, neu gestellt werden müssen. Und dazu liefert dieses Werk wichtige Gedanken und Anregungen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
José Casanova, "Europas Angst vor der Religion", aus dem Spanischen übersetzt von Rolf Schieder, Berlin University Press

Link
Berlin University Press - Europas Angst vor der Religion