So wurde, was ist
Was wird
In A. L. Kennedys Erzählungen geht es immer wieder um Menschen, denen ihr Unglück zur Heimat geworden ist. Die schottische Autorin versteht es immer wieder, in zahlreichen Schattierungen die Zwangsläufigkeit von Schicksalen zu zeigen.
8. April 2017, 21:58
"Ich sehe das so", erzählte A. L. Kennedy in einem Interview: "Unsere äußere Realität ist das Produkt unserer inneren Wirklichkeit. Und, was außer der Literatur keine andere Kunstform kann, ist das Unsichtbare und Ungesagte zu benennen. Davon zu berichten, was die Figuren denken und wie sie sich für die äußere Realität wappnen." Dazu kennt sie eine Anekdote: "Da gibt es doch diese Geschichte von Watzlawick von dem Typen, der bei seinem Nachbarn einen Hammer borgen will und der dann ins Sinnieren kommt, dass dieser Nachbar ihn noch nie gegrüßt hat, dass er wahrscheinlich ein sehr unfreundlicher Mann sein und ihm den Hammer auch nicht leihen wird, der dann bei seinem Nachbarn klingelt und ihn anpöbelt: Du kannst deinen Scheiß-Hammer behalten. So ist das Leben!"
Und über diese Art verrücktes Leben schreibt A. L. Kennedy seit Erscheinen ihres ersten Romans "Looking for the possible Dance", 1993. Bis heute.
Etwas Rotes, Warmes
In der titelgebenden Geschichte "Was wird" erleben wir Frank, wie er beim Gemüseschneiden abrutscht. Aus einer tiefen Wunde am linken Ringfinger läuft Blut, das er fasziniert beobachtet. Er wundert sich, hat man den Eindruck, dass so etwas Rotes, Warmes in ihm ist. Und weil er nichts damit anfangen kann, lässt er es einfach weiterlaufen. Gleichzeitig ahnt er, dass eine blutbesudelte Wohnung bei seiner Frau nicht gut ankommt.
Aber Gefühle gab es natürlich, und die musste man berücksichtigen. Sie war oben, nahm ein Bad und hatte Gefühle. Das war zweifellos der wichtigste Gedanke, den man haben konnte, zu dem er hätte fähig sein sollen, dass sie Gefühle hatte. Und diese Gefühle bedeuteten, dass sie seine Suppe nicht mochte (...) und dass sie ihm die Schuld an schrecklichen Dingen gab, an einer schrecklichen Sache, die doch ein Unfall gewesen war, die nur einen Atemzug lang währte und doch hieß, dass er so viel wie sie verloren hatte, ganz genau so viel.
Kinder voller Wut
Bei Frank besteht wenig Hoffnung, dass noch was wird. Aber bei Sam und Jimbo aus der Geschichte "Wespen" könnte theoretisch noch welche bestehen, denn sie sind Kinder. Allerdings schon voller Wut. Wut auf den Vater, dem ihre Liebesbekundungen so lästig sind, dass er ihnen vorrechnet, wie viel Geld sie ihn kosten. Und auf die Mutter, die ihren Stolz verloren hat, dick und kläglich geworden ist.
Wohin mit der Wut? Da ist niemand als der andere Bruder, schwach genug, um als Zielscheibe zu taugen. Sam und Jimbo zerschmettern sich die Zehen, hauen sich die Nasen blutig. Die Mutter sieht klar, aber tatenlos zu, wie ihre Söhne begreifen, dass Liebe und Leid zwei Namen für dieselbe Sache sind.
Eine Lektion, die die Erwachsenen in A. L. Kennedys Erzählungen allesamt schon gelernt haben. Und da ist es gleich, ob sie in festen Beziehungen leben oder als Singles. Das Problem ist, dass sich bei Kennedys Erwachsenen das Unglück schon bis in den Kern der Persönlichkeit eingefräst hat und sich auch an der Unterseite nicht mehr ohne Weiteres als Sehnsucht erkennen lässt. Es geht um Menschen, denen ihr Unglück zur Heimat geworden ist.
Das Leben - ein Absturz
In der Erzählung "Samstag spätnachmittags" erleben wir eine Frau, Opfer der durchtherapierten, Ratgeberliteratur-süchtigen, Karma-kuren-verrückten Wellness-Gesellschaft. Eine Frau, die in Erwartung einer gewissen Menge Glücks seit Jahren regelmäßig in einen Floating Tank steigt. Jedes Mal ist sie nicht wirklich sicher, ob's geholfen hat. Und dieses Mal entgleist die Situation gänzlich. Die in einer dunklen Kiste, in Salzlake eingelegte Nackte wird von einer bedrohlichen Idee heimgesucht. Das Leben ist ein einziger Absturz.
Es braucht eine Weile, bis wir erkennen, dass wir alle aufkommen und die Landung nicht überleben werden. Wir sind eine bevorstehende Tragödie. (...) Und dieses Murmeln in unseren Ohren vor dem Einschlafen - wir hatten uns eingebildet, es sei Blutkreislauf, Herzschlag, Tinnitus - aber das ist es nicht, es ist der Sturz. Es ist alles, was noch übrig ist und an uns vorbei rauscht: zerfetzte Minuten, aus Stunden, Tagen, Wochen gerissen - es ist der Sturz.
Wir erfahren, dass die Frau, die sich hier vergeblich um Entspannung bemüht, einem gewalttätigen Elternhaus entstammt - der Vater schlug die Mutter und das Mädchen fühlte sich schuldig, dass es die Mutter nicht retten konnte, sondern sie für ihre Schwäche hasste. Ihr fehlen Halt, Leichtigkeit, die Fähigkeit zu entspannen.
Ohne Gefühl geht's nicht
Manche der Erzählungen haben etwas von einer Fallgeschichte an sich. Kennedy zeigt die Unentrinnbarkeit und Zwangsläufigkeit von Schicksalen: So wurde, was ist. Es sind Protokolle seelischer Verwerfungen mit Ausblicken darauf, welchen Kollateralschaden jede Depression, jede narzisstische Störung anrichtet. Fallgeschichten, nicht aus den Knäckebrot-dürren Diagnose-Vokabeln der Therapeuten, sondern aus Worten aus Fleisch, Blut und Seele. So wie A. L. Kennedy das immer kann. Es ist schon unheimlich, wie A. L. Kennedy das immer kann. Zum Beispiel auch in einer der letzten Geschichten "Mit Gefühl". Es ist eine Episode Sex zwischen Unbekannten und wäre ein prima Einakter für die Bühne.
Offiziell wollen beide nur eine schnelle Nummer, wissen aber überhaupt nicht, wie das gehen soll. In Ermangelung gefühlter eigener Triebe spielen sie alle aus Pornos und Groschenromanen bekannten Rollen und Stellungen durch: simulierte Leidenschaft, die aber keine echte wecken kann. In den Gesprächspausen klärt sich die Basis dieser Zusammenkunft: Beide wollen den jeweils anderen nutzen, um sich etwas zu beweisen. Er nach bestandenem Vorstellungsgespräch, dass er ein ganzer Kerl ist. Sie, nach der Einäscherung ihrer Mutter, dass sie tatsächlich frei ist.
Aber wie er sich auch abrackert: Sie kommt nicht zum Höhepunkt. Und die Nacht endet im Desaster. Was fehlt, ist Gefühl. Das, meint A. L. Kennedy, sei symptomatisch für unsere Zeit: fehlende Empfindung für den anderen. Die Aufgabe der Literatur sei es, dieses Defizit aufzuzeigen.
"Schreiben ist sehr politisch", meint A. L. Kennedy. "Es geht darum zu zeigen: Andere Menschen sind Menschen wie du und ich. Es geht darum, dem grassierenden Mangel an Mitgefühl etwas entgegenzusetzen. Literatur soll die Leser daran erinnern, dass das Wesen der Anderen genauso tief, komplex und interessant ist, wie ihre eigene. Das ist, finde ich, fundamental politisch."
Ein Schritt vor dem Abgrund
Sämtliche, von A. L. Kennedy in dem Band "Was wird" versammelte Figuren sind wie abgespalten von ihren vitalsten Gefühlen. Ihr Unglück ist ihnen ein bequemes Versteck. Sie haben sich einen Schritt vor dem Abgrund eingerichtet. Trotz der Trostlosigkeit, die ihnen deshalb eigen ist: Die 44-jährige Schottin zeigt, dass das Grau ihres Grauens zahllose Schattierungen enthält und verleiht ihnen eine Präsenz, die beim Lesen förmlich schmerzt.
Dies sind Geschichten, denen man nur mit Mühe standhält. Irgendein innerer Regent scheint sie als Alpträume zu identifizieren und so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen. Man muss den Mut finden, sie ein zweites Mal an sich heranlassen, um ihre Brillanz, ihre Tiefe, ihre traurige Wahrheit zu erkennen.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
A. L. Kennedy, "Was wird. Erzählungen", aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke, Wagenbach Verlag
Link
Wagenbach - Was wird