Die Stadt der Vertriebenen

Istanbul war ein Märchen

Mario Levis Roman, vor zehn Jahren im Original erschienen und nun erstmals auf Deutsch veröffentlicht, ist das großartige Buch eines patriotischen Istanbulers, der einen Mangel an Erinnerungsvermögen und Identifikation mit seiner Stadt beklagt.

Im Laufe der Jahre hat der Mensch gelernt, den Schmerz des Verlassen-werdens oder des unausweichlichen Abschiednehmens zu ertragen und unterschiedlich auszudrücken.

So beginnt Mario Levis opulentes Prosawerk "Istanbul war ein Märchen", das der Buchumschlag "Roman", der Ich-Erzähler aber immer nur "diese lange Erzählung" nennt. Vorgeschaltet sind dieser langen Erzählung über Abschied und Verlassen-werden ein kommentiertes Personenverzeichnis und eine Art lyrischer Ouvertüre: ein kleiner Text, in dem von Menschen und Geschichten die Rede ist, von einer Sommernacht auf einem Balkon, von alten Liedern und Glühwürmchen.

Wehmütige Stimmung

Nichts wird wirklich konkret - um welche Lieder und Liebschaften geht es, um welche Affären, Hoffnungen, Irrtümer und Enttäuschungen? -, und doch wird schon hier eine Stimmung greifbar, die das ganze Werk grundiert: die der Wehmut. Eine Stimmung, die die nachfolgenden knapp fünfzig Personen-Kurzvorstellungen, noch verstärkt: als Frau, die "bis zuletzt glaubte, die Prinzessin zu bleiben, mit all ihren Erinnerungen und Sehnsüchten", wird eine Olga eingeführt; als ein großes Sprachtalent, das meinte, "echte Liebesgeschichten nur auf dem Meer erleben zu können", der Jude Carlo; als ein Protagonist, "der sein Lied nicht vollendet hatte", der musikverliebte Muhittin Bey.

Offiziere, Händler, Kaufleute und Schneider versammelt Levis Panorama des 20. Jahrhunderts, katholische Araber, islamische Mystiker und spanische Kommunisten, Armenier, Griechen und Juden, deren Lebensläufe und Identitäten widersprüchlich oder undeutlich, fast immer aber abenteuerlich bleiben. Minderheiten und Überlebenskünstler in einem lange Zeit weltoffenen Istanbul, denen Mario Levi in diesem Buch der Erinnerungen ein Denkmal setzt.

Dem Großvater gewidmet

Istanbul ist die Stadt der Vertriebenen. Hier landet zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mozes Bronstein aus Odessa mit seiner aus Riga stammenden Frau Eva. Sohn Jacob wurde in Alexandria zurückgelassen, Tochter Olga kam am Bosporus zur Welt. Sie wird sich später unglücklich verlieben in den dandyhaften Geschäftsmann Henri Moskowitsch, der Olga eine Wiener Comtesse vorzieht.

Olga wiederum wird die Geliebte von Monsieur Jacques, Sohn des Teppichrestaurators und Lebenskünstlers Avram Efendi und der später erblindeten Madame Perla. Monsieur Jacques ist mit der aus Griechenland stammenden Madame Roza verheiratet, vertreibt sich die Zeit beim Tavla-Spiel mit dem aus Armenien kommenden Onkel Kirkor und erweist sich als Mann mit einem Faible für Okka-Rosen - und für Märchen. Er ist der heimliche "Held" in Levis großem Erzählmosaik. Monsieur Jacques sei seinem Großvater nachempfunden, erzählt Levi im Gespräch, deswegen habe er das Buch auch seinem Großvater gewidmet.

Sephardischer Jude

Sieben Jahre hat Mario Levi an seinem Opus magnum geschrieben, einem Buch, das er als "Bringschuld an seine Vorfahren" betrachtet. Jetzt ist das im Original vor zehn Jahren erschienene Werk in einer auf 840 Seiten gekürzten deutschen Version erhältlich.

Levi, 1957 in Istanbul geboren, ist ein türkischer Jude, Nachfahre der aus Spanien stammenden Sephardim, die Ferdinand und Isabella von Spanien einst in die Flucht zwangen. Viele emigrierten, wie die Levis, ins osmanische Reich. Konstantinopel wurde ein Zentrum des Judentums. Doch während vor hundert Jahren hier noch 200.000 Sephardim lebten, ist es heute gerade mal ein Zehntel davon, und auch ihre Sprache, das Ladino, droht auszusterben.

Stimmen, Geschichten und Lebensentwürfe

"Istanbul war ein Märchen" ist das Buch eines patriotischen Istanbulers, der einen Mangel an Geschichtsbewusstsein, an Erinnerungsvermögen und Offenheit beklagt und einen Mangel an Identifikation mit seiner Stadt.

Wie Mario Levi treibt auch seinen Ich-Erzähler der Wunsch an, "in das verlorene Land der Kindheit zurückzukehren", den multikulturellen Schmelztiegel Istanbul. Er sammelt Stimmen, Geschichten und Lebensentwürfe, biografische Fragmente, Gerüchte und Legenden. Gegenstände und Gerüche - eine venezianische Vase oder der Duft von Gewürznelken - werden zu Auslösern eine Reise in die Vergangenheit, die nie ganz greifbar wird, die nie ihr Geheimnis ganz offenbart.

Diese Vergangenheit war bevölkert von Abschied-Nehmenden, Gescheiterten und Verbannten, von Träumern und Unglücklichen, die, wie verzweifelt sie auch gewesen sein mochten, ein gleichgültiges Verhältnis zum Leben nicht kannten. Es ist eine vormoderne Welt, die Mario Levi heraufbeschwört, überzogen von einem Schleier der Melancholie.

Ein eigenes poetisches Fluidum

"Istanbul war ein Märchen" ist ein ebenso großangelegtes wie großartiges, und doch kein leicht zu lesendes Buch. Es fordert den konzentrierten und geduldigen Leser: Das Personal ist umfangreich, die Beziehungen verwirrend, die Porträts bruchstückhaft, die Ordnung unchronologisch. Es ist ein Buch aus hundert Geschichten, nicht zu Ende erzählten Geschichten, doch wichtiger als die Handlung ist dem Autor die Atmosphäre.

Levis subtiles, oft scheinbare Kleinigkeiten fokussierendes Erzählen erzeugt dabei eine Art Sog, ein ganz eigenes poetisches Fluidum, das diese untergegangene Welt in ein weiches Licht taucht - nicht aber verklärt: Der Erzähler weiß auch um Nachstellungen und Bedrohungen, um Militärputsch und Pogrome.

In nachdenklich-behutsamem, langsam vorantastendem Stil macht Levi die Träume und Illusionen, aber auch die Lebenslügen und Versäumnisse seiner Protagonisten lebendig. "Jetzt, da das, was ich erzählen will, mir vor Augen liegt, frage ich mich, ob ich derart tief in ein Menschenleben eindringen soll", überlegt sich sein Ich-Erzähler, der immer wieder die eigene Unzulänglichkeit, sein eigenes Unwissen zur Sprache bringt.

Schreiben als Erwachsenwerden

"Ich bin in den Korridoren einer langen Rückkehr in die Vergangenheit gewesen. (...) Es ist möglich, dass ich mit meinen Interpretationen in die Falle mancher Irrtümer, meiner eigenen Lügen getappt bin...." gesteht der Ich-Erzähler, der Schreiben als Erwachsenwerden begreift, ein - am Ende einer kein wirkliches Ende kennenden, im Grunde nie zu Ende kommenden uferlosen Familiengeschichte, die schon viele hundert Seiten zuvor erkannte: "Um unsere verlorenen Stunden ins Leben zu rufen, brauchen wir die Stunden der anderen."

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Mario Levi, "Istanbul war ein Märchen", aus dem Türkischen übersetzt von Barbara Yurtdas und Hüseyin Yurtdas, Suhrkamp

Link
Suhrkamp - Istanbul war ein Märchen