Erinnerungspassagen von Ilma Rakusa
Mehr Meer
Ilma Rakusas Buch besticht nicht durch Ereignisse und Informationen, sondern durch seine Sicht auf die Welt und seine Sprache. Prosa wie diese ist wie ein Trampolin, das zum Absprung in das Meer des eigenen Erinnerns einlädt.
8. April 2017, 21:58
Ich wachse tantenbehütet auf, zwischen Fabrikwohnung, Apotheke und Park. Wechsle von der Muttermilch jäh zur Paprikawurst, was akute Besorgnis auslöst. Vier Zähne, viel Ungehorsam. So stand es um mich.
Es sind Sätze wie diese, die Ilma Rakusas neuen Prosaband zu einem Ereignis machen. Man hütet sich, von Erinnerungen oder gar von einem autobiografischen Buch zu sprechen und will auch nicht gleich die vielen Orte und Länder nennen, die hier in den Blick kommen, denn das Buch besticht nicht durch Ereignisse und Informationen, sondern durch seine Sicht auf die Welt und seine Sprache; und den reflektierten Blick auf konkrete Details.
Das kleine Glück dauert eine kleine Weile. Es kommt, geht, kommt wieder, in dieser oder jener Gestalt. Es hat Namen wie: Kniesocken, Schaukel, Abendbad im Meer, Küssen, verbotene Lektüre. Je nach Jahreszeit.
Viele bunte Steine
Dialoge und erinnerte Märchen, Miniaturporträts nahestehender Menschen und Literatur-Zitate, Traumfragmente und Reisebilder sind die vielen bunten Steine, aus denen sich die "Erinnerungspassagen" Ilma Rakusas zusammensetzen. "Erinnerungspassagen" ist der treffend vieldeutige Untertitel des Buches – "Passagen", das sind Durchfahrten und Durchgänge, kleine zusammenhängende Textteile und Reisen, vor allem über das Meer.
Von all dem hat Ilma Rakusas Prosa etwas: das Luftige der Durchgänge, die Vielstimmigkeit von heterogenen Kurztexten, die lebenslangen Reisen und die zum Buchtitel gewordene Sehnsucht nach "Mehr Meer".
Es muss mir den Atem verschlagen haben, dieses erste Meer. Noch heute, wenn ich in meinem Norden die Augen schließe, sehe ich seine helle Weite. Rieche das Salzwasser, höre die Wellen ans Ufer schlagen. Und die Welt scheint in Ordnung. Wie von selbst formen die Lippen ein "O".
Schauen und denken
Wer dächte bei dem Wort "Passagen" nicht an Walter Benjamins fragmentarisches Lebenswerk, an die Gleichzeitigkeit von Sehen und Reflektieren, die seine "Denkbilder" auszeichnen. Das funkelnde Zusammenspiel von Schauen und Denken ist auch bei Ilma Rakusa am Werk: Nie sackt es ab ins Erklären, nie ist es auf Überzeugen und Überzeugungen aus. Diese Prosapassagen haben nichts von dem an sich, was viele Autobiografien behäbig macht und ihnen einen falschen Unterton gibt: dass der Autor, die Autorin sich selbst zu erklären versucht.
Und sie täuschen keine Zusammenhänge vor: "Ich feilsche nicht um das Ganze", heißt es gegen Ende. Und so gilt auch das letzte Kapitel nicht einem herausragenden, krönenden Ereignis, sondern dem Wind mit seinen vielen Facetten und der Warnung:
Sage mir keiner, die Winde glichen sich.
Eine alternative Wachtraumwelt
Besonders stark ist dieses Buch in seinen Kindheitspassagen: Wie ein Handschuh aus Kaninchenfell zum unersetzlichen Freund wird, wie in einem von Jalousien abgedunkelten Zimmer eine alternative Wachtraumwelt entsteht, was Lesen ermöglicht und wie die ersten selbst geschriebenen Sätze entstehen. Aber nie wird der falsche Versuch gemacht, sich naiv in die Kindheit hineinplumpsen zu lassen; in die Bilder, Töne und Gerüche von damals leuchtet das Wissen von heute.
Besonders eindrücklich gelingt das beim Triest-Kapitel. Doch das Wissen von heute ebnet nicht das Staunen von damals ein. Das Staunen, die Epiphanien, die wunderbaren Augenblicke - vor allem diese will Ilma Rakusas Erinnerungsprosa festhalten. Dem verdankt sich auch die Schilderung einer katholischen und einer orthodoxen Osternachtsfeier, die vor dem Hintergrund herrschender Glaubens- und Unglaubensroutine völlig solitär ist. Aber auch diese Oster-Faszination gerinnt in keiner Weise zu einem Argument für Religion; sie beschreibt nur eine Erfahrung.
Der Eros des Ostens
"Die innere Kompassnadel zeigt nach Osten." So beginnt schon das dritte Kapitel des Buches. In diesem Osten, im ehemals ungarischen Rimaszombat, der heutigen Kleinstadt Rimavská Sobota im Südosten der Slowakei, ist Ilma Rakusa als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Muter geboren. Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich sollten zu weiteren Stationen ihrer Kindheit werden.
Der Eros des Ostens, das Hingezogensein zum Chaos und zu den Rissen, blieb Ilma Rakusa erhalten. Und so wurde in tiefsten Sowjetzeiten trotz aller unverkennbaren Distanz und politischen Kritik Leningrad zu einem besonderen Glück.
Damals, ja. Glück wie: Geborgenheit, Gerstenbrot, Graugans. Ich lernte, was Freundschaft heißt und wie gut sich's auf Gräbern essen lässt. Und den Kaloriengehalt von Worten. (Dichtung als Überlebensration.) Und die Helligkeitsskala nicht untergehender Tage.
Schön.
Und das Chorische eines andern, irgendwie unzielgerichteten Lebensentwurfs.
Also kein Bedauern?
Wie sollte ich. Auch wenn die Zeiten sich geändert haben.
Wer selbst diese Faszination des europäischen Ostens in sich trägt, wird sich gerade in diesen Passagen wiedererkennen.
Absprung ins Meer
Das genau Komponierte, aber nie auf ein einziges Ziel Gerichtete von Ilma Rakusas "Mehr Meer" lässt jeden und jede dort innehalten, wo er oder sie sich verwandt fühlt oder vielleicht sogar erkannt. Prosa wie diese ist wie ein Trampolin, das zum Absprung in das Meer des eigenen Erinnerns einlädt.
Wenn man etwas einwenden könnte an diesem Buch, so das, dass es gegen Ende hin doch ein wenig in das Berichten abgleitet und der erkenntnisträchtig-poetische Blick seltener wird. Das mag auch daran liegen, dass die Welt hinter dem Eisernen Vorhang und zumal in der Sowjetunion für die meisten so fern und fremd ist, dass eben viel erzählt werden muss.
In unverwechselbaren Worten wird hingegen eine Liebe in Paris erinnert, auch ihr Ende, das keines war.
Aus kurzen Pausen wurden lange und immer längere. Unsere Berührungen übersiedelten in die Schrift. Rätselhaft und sehr langsam gaben wir auf. Ohne uns je zu verlieren. Die Rede vom Ende, nein, sie gilt nicht.
Ja, auch das Fehlen von Bitterkeit ist es wert, an Ilma Rakusas Erinnerungen gerühmt zu werden; die Wärme und Zuversicht. "Staune und vertraue", lautet der letzte Satz.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 13. September 2009, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Ilma Rakusa, "Mehr Meer. Erinnerungspassagen", Literaturverlag Droschl
Link
Literaturverlag Droschl - Ilma Rakusa