Ein böser Traum
Blumenkind
"Blumenkind" ist das erstaunliche Romandebüt eines 71-Jährigen, der mit unaufdringlichen Mitteln spannend zu erzählen weiß und eine fremde Welt lebendig werden lässt. Schauplatz der Geschichte ist Rumänien während des Zweiten Weltkriegs.
8. April 2017, 21:58
Berta Altmann hatte einen bösen Traum. Er handelte von Polizisten mit grünen Hüten und Hakenkreuzbinden am Rockärmel, die ihr die Tochter entrissen, und einem Mann, der auf sie einprügelte und sie auf offener Straße vergewaltigte, während die Passanten begeistert Beifall klatschten.
Berta beschließt, zu einer Wahrsagerin zu gehen, damit sie ihr den Traum deute. "Du bist nicht du, aber du bist auch nicht eine andere", flüstert diese in der muffigen Küche ihrer Klause in Marmatien. "Einmal aber wirst du wieder das sein, was du eigentlich bist. Doch dann holt dich der Tod. Drum hüte dich zu zeigen, was du bist. (...) Und vermeide die Menschen."
Berta glaubt, nicht ganz verstanden zu haben, was die Wahrsagerin ihr prophezeite, und erkennt doch, dass die Frau "anscheinend alles zu wissen schien, was sie zu verschweigen suchte": dass Berta in Wahrheit Beila heißt, keine Christin, sondern Jüdin ist und ihre Identität zu verbergen sucht, um sich und ihrem Kind das Überleben zu sichern.
Tödlicher Antisemitismus
Schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als Berta alias Beila ihren schrecklichen Traum träumte, herrschte auch in der tiefsten rumänischen Provinz tödlicher Antisemitismus. Davon und vom abenteuerlichen Lebensweg und tragischen Ende der Beila Altmann und ihrer unehelichen Tochter Maria erzählt Claus Stephani in seinem Roman "Blumenkind".
"Ein 'Blumenkind' ist ein Kind der Liebe", erklärt Claus Stephani. "Das Wort ist eine Lehnübersetzung aus dem Rumänischen. 'Copil din flori' heißen solche Kinder, die auf einer Wiese mit vielen Blumen gezeugt wurden. (...) Ich habe das Wort, weil es so schön ist, ins Deutsche eingeführt."
Die jüngste Witwe im Ort
Die glücklichen Momente freilich sind rar in der Geschichte des Blumenkinds und seiner Mutter, die Stephani hier ebenso einfach wie eindringlich erzählt, in einem Roman voll trauriger Schönheit. Es ist eine Geschichte von Flucht und Vertreibung, von Demütigung und Mord.
Stephani lässt sie im Jahr 1925 beginnen. Beila ist gerade 19 Jahre alt, verheiratet mit einem jüdischen Kürschner und zuhause in einem kleinen Ort am Rande der Waldkarpaten. Es ist das Jahr, in dem der ultranationalistische Corneliu Zelea in Jassy einen Präfekten erschoss und mit den Grünuniformierten seiner faschistischen Legion Angst und Schrecken verbreitete - und Beilas Mann von seinen Männern erschlagen wurde.
Beila wird zur jüngsten Witwe im Ort, der Weg zur Dorfhure scheint vorgezeichnet, doch Beila packt ihr Hab und Gut, zieht in die Bukowina und kommt bei Bauern unter. Als sie sich einen Sommer lang der "wilden Liebe" hingibt, schwanger wird und ein "Blumenkind" erwartet, wird sie erneut zur Zielscheibe der Feindseligkeiten: Sie sei eine Hexe, eine Hure, "ein Unglück für die Menschheit". Das Wort "Rassenschande" grassiert.
Systematische Judenverfolgung in Rumänien
Wieder muss Beila weiterziehen. Sie geht ins Tal der Goldenen Bistritz, ins Gebiet der Zipser Sachsen, verleugnet ihre jüdische Identität und wird Dienstmädchen - bei einem Pfarrer, der sie vergewaltigt.
Sie flieht in einen Weiler an der Grenze zu Marmatien, findet Arbeit in einem Forstamt und verliebt sich in einen Mann österreichisch-jüdischer Herkunft. Als sie ihn eines Tages in der Stadt besuchen will, begegnet sie einem Zug jüdischer Frauen, bewacht von Soldaten. Als eine Jüdin bei einem Fluchtversuch erschossen wird, reißt ein Soldat Beila vom Gehweg und komplettiert mit ihr die Reihe. Die Frauen - wir schreiben das Jahr 1944 - werden nicht mehr deportiert, sie werden auf eine Wiese getrieben, erschossen und in einen Fluss geworfen.
"1940 begann bereits in Rumänien eine systematische Verfolgung und Ermordung der Juden", sagt Stephani. "Gelegentlich hat auch die SS mitgeholfen, beim Blutsonntag in Jassy, der auch vorkommt, und anderen Ereignissen. Aber primär waren es doch die Einheimischen."
Multiethnisches Wiesenau
Claus Stephani zeichnet in eher knappen Szenen den Lebensweg von Beila und ihrem "Blumenkind" nach - vor dem Hintergrund schlimmer Zeitläufte: brennende Synagogen und neu errichtete Gettos, nationalsozialistische Umsiedlungspolitik und Deportation, Terror und Massenvernichtung. Er zeigt Mörder, Kollaborateure und Aufwiegler, hartherzige Popen und eilfertige Ortsgruppenleiter, aber auch aufrechte, hilfsbereite und unerschrockene Menschen - und vermittelt einen Eindruck von einem multiethnischen Rumänien, wie am Beispiel des Weilers Wiesenau.
"Es ist ein Musterbeispiel einer multiethnischen Siedlung", erklärt Stephani. "Bis zum Faschismus gab es da niemals ein Pogrom oder irgendwelche Ausschreitungen. Die Bevölkerung hat weitgehend friedlich beisammen gelebt.(...) Für mich war dieser Ort so ein Beispiel eines kleinen Europas."
Sagenhafte Figuren und phantastische Wesen
In "Blumenkind" treten Zipser und Huzulen auf, Juden, Ruthenen und andere - Volksgruppen und Ethnien mit ihren charakteristischen Speisen, ihren verschiedenen Berufen, ihrem ganz speziellen Idiom.
Claus Stephani ist nicht nur ein Schriftsteller, er ist auch ein leidenschaftlicher Ethnologe und Volkskundler. Er hat unzählige Volkserzählungen, Sagen, Märchen und Legenden vor allem aus dem Ostjüdischen und Rumänischen zusammengetragen, hat Lebenszeugnisse und Volkskundliches gesammelt und in rund zwei Dutzend Bänden veröffentlicht.
Von diesem Fundus profitiert auch "Blumenkind". Immer wieder ist hier vor allem von unheilvollen Geschichten und Gestalten die Rede: vom "Prikulitsch", dem Werwolf, und der Schwarzen Waldmutter, vom bösen Geist "Kikimora" oder der Hexe "bisycia" - Geschichten zur Stigmatisierung und Angsterzeugung.
"Ich habe diese verschiedenen sagenhaften Figuren oder phantastischen Wesen einbauen müssen, weil sie dort zum Alltag gehören", meint Stephani. "Es gibt noch den Aberglauben dieser Ausprägung, bis heute."
Auf der Suche nach der Kindheit
Claus Stephanis "Blumenkind" endet nicht mit Beilas Tod. Schon im ersten Teil wird die Chronik der Ereignisse gelegentlich durchbrochen von Kapiteln, die zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg spielen, als eine junge Deutsche mit rotem Auto Rumänien bereiste: Maria auf der Suche nach Spuren ihrer Kindheit. Der Autor, der beteuert, dass seinem Roman eine wahre Begebenheit zugrundeliegt, rekapituliert schließlich auch ihre Geschichte, erzählt, wie Beilas Tochter Maria 1945 nach Bayern übersiedelte, als Zwölfjährige ein Kind bekam, ein "Blumenkind" wie sie selbst, es sitzen ließ und mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten durchbrannte, 1965 schließlich nach Rumänien fuhr, dort einen wesentlich jüngeren Mann kennen und lieben lernte, ohne zu erkennen, dass es ihr eigener Sohn ist, ihn heiratete, nach Deutschland holte und wenig später mit ihm tödlich verunglückte.
Hier, im Finale, wirkt der ansonsten stilsicher und anrührend erzählte Roman wie ein seltsamer Zwitter aus antiker Tragödie und Kolportage. Zeigte Stephani bei Beilas parabelhaftem Fall, wie Schicksal etwas von Menschenhand Bestimmtes ist, so führt jetzt der pure Zufall Regie und beendet, kaum dass sie begonnen, eine fatale Inzestgeschichte. Dennoch: "Blumenkind" ist das erstaunliche Romandebüt eines 71-Jährigen, der mit unaufdringlichen Mitteln spannend zu erzählen weiß und eine fremde Welt lebendig werden lässt.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Claus Stephani, "Blumenkind", Verlag SchirmerGraf
Link
SchirmerGraf - Blumenkind