Ein Tschetschene in Russland

Rechtsanwalt "Schwarzarsch"

German Sadulajew war schon alles Mögliche in seinem Leben: Hilfsarbeiter, Aushilfskellner, Sinnsucher, Student... Im Moment ist er zweierlei: Autor und Rechtsanwalt, letzteres in Sankt Petersburg. Schwieriges Pflaster für einen Tschetschenen!

Dass ein normaler österreichischer Zeitungsleser weiß, wo ungefähr Tschetschenien liegt und dass dort die Tschetschenen leben, ist für die Tschetschenen kein Glück. Oder vielleicht doch? Kann man es als Glück bezeichnen, wenn Kriege unter den Augen der Weltöffentlichkeit stattfinden - Glück insofern, als das Morden, oder ein Teil des Mordens, bekannt wird? Hat je ein Krieg aufgehört, nur weil "die Weltöffentlichkeit" davon Kenntnis erlangte?

Widerstand am Kaukasus

Die Russen wussten selbstverständlich immer, wo Tschetschenien liegt. Der Kaukasus galt immer als Krisenregion, keines der Kaukasusvölker wollte zum Zarenreich gehören, auch nicht zur Sowjetunion. Und sowohl die Zaren als auch alle Nachfolger hielten es für höchst notwendig, "dort unten" Stärke zu zeigen. Denn wer störte schon im 18. Jahrhundert die wirtschaftliche Entwicklung der östlichen Schwarzmeer-Region? Genau, die von den Bergen. Die Tschetschenen und die Inguschen überfielen die Händler, die mit ihren Waren nach Moskau zogen, sie plünderten die Reisenden aus, sie brachten Unruhe in die Region, und nicht das russische Heer, das Zucht und Ordnung in den Kaukasus brachte.

Als der Widerstand gegen die zunehmende Russifizierung 1877 bis 1878 niedergeschlagen wurde, verließen viele Kaukasier ihre Heimat und siedelten sich im Süden an, vor allem im Osmanischen Reich. Die verlassenen Dörfer wurden Armeniern und Kosaken überlassen. Und immer noch herrschte keine Ruhe im Kaukasus. Nicht einmal Stalins Umsiedlungsprogramme konnten die Gegend befrieden, wie auch! Eine halbe Million Tschetschenen und Inguschen (es traf auch andere kaukasische Völker) wurden allein im Februar 1944 nach Mittelasien deportiert, viele kamen ums Leben. Erst 1957 erlaubte Nikita Chruschtschow den Tschetschenen, in ihre Heimat zurückzukehren. Was die Konflikte in der Region auch nicht zum Stillstand brachte.

Gedankensplitter

Die Russen und die Tschetschenen haben eine lange gemeinsame Geschichte. Und German Sadulajew steht irgendwie mittendrin, als Sohn eines Tschetschenen und einer Russin. Er kennt die Verachtung der einen wie der anderen. Und den Schmerz. Und die Vorurteile - das Wort "Tschetschene" entspricht im heutigen Russland dem (seinerzeit?) in Wien verächtlich hingezischten "Tschusch", und denen traut man schließlich alles zu.

"Ich bin Tschetschene" nennt er sein erstes Buch. Es ist kein Roman, denn das einzige, das die vielen "Splitter" zusammenhält, ist die Person des Erzählers. Und der wirkt wie ein Schlafloser, dem unzählige Gedanken durch den Kopf gehen, der die schrecklichen Bilder mit schönen Erinnerungen vertreiben will, der Schlaf und Ruhe sucht und doch nicht findet.

Service

German Sadulajew, "Ich bin Tschetschene", aus dem Russischen von Franziska Zwerg, Ammann Verlag

Badische Zeitung - Mutter Erde