Der planlose Bau des menschlichen Gehirns
Murks
Evolutionspsychologen und Verfechter der Theorie vom intelligenten Design haben eines gemeinsam: Sie halten das menschliche Gehirn für ein Wunderwerk an Perfektion. Doch davon kann keine Rede sein, meint Gary Marcus in seinem neuen Buch.
8. April 2017, 21:58
Das menschliche Gehirn wird gerne mit einem Computer verglichen. Doch das sei Wunschdenken, mein Gary Marcus. Das Gehirn ist alles andere als eine Präzisionsmaschine.
Worum es Gary Marcus, Psychologie-Professor an der New York University, in seinem neuen Buch geht, steckt im Titel: "Murks. Der planlose Bau des menschlichen Gehirns." Im Originaltitel heißt es "Kluge". Der Autor Marcus erklärt diesen im Englischen eher seltenen Begriff:
"'Kluge' ist eine alter, umgangssprachlicher Ingenieursbegriff dafür, wenn man ein Problem löst, indem man etwas zusammenschustert. Sozusagen mit Klebestreifen und Gummiringerln. Man behilft sich mit Improvisation."
Das Ergebnis von Improvisation
Genauso ist das menschliche Hirn entstanden, erklärt der Autor. Nicht durch einen eigenen, perfekten Plan, sondern eher als Ergebnis von Improvisation. Der Ingenieur war in diesem Fall die Evolution. "Da die Evolution nicht vorausschaut, besteht die Tendenz, dass Neues auf Altes aufgepfropft wird", erklärt Marcus. "Das ist, was Darwin mit Modifikation gemeint hat. Und das lässt sich genetisch verfolgen. (...) Die Evolution ist nicht so gescheit, dass ein Lebewesen, weil es sich total von einem anderen unterscheidet, auch total anders funktonieren soll. Im Gegenteil. Daher unterscheidet sich der Flügel eines Vogels vom Arm eines Menschen eigentlich nicht grundlegend."
Die Natur ist nicht daran interessiert, den besten aller möglichen Flügel oder den funktionstüchtigsten Arm der Menschenheitsgeschichte hervorzubringen. Die Sache soll bloß halbwegs funktionieren. Das reicht schon, schreibt Gary Marcus:
Das führt zu dem, was ich als evolutionäre Trägheit bezeichnen möchte - in Anlehnung an Newtons Trägheitsgesetz, demzufolge ein in Ruhe befindlicher Gegenstand dazu tendiert, in Ruhe zu verharren, während ein in Bewegung befindlicher Gegenstand dazu tendiert, in Bewegung zu bleiben. Die Evolution bevorzugt die Arbeit mit dem, was bereits da ist, und wandelt eher ab, als dass sie ganz neu beginnt.
Statistisch ungefähr richtig
Der Gedächtnisapparat zum Beispiel ist in seinen Grundzügen zu einer Zeit entstanden, als von Menschen noch weit und breit keine Spur war. Die Grundprinzipien finden sich in Bakterien, Meeresschnecken und Fruchtfliegen. Aus dieser Entwicklungsgeschichte ergibt sich:
"Unser Gedächtnis ist nicht für Präzision konstruiert", meint Marcus. "Unsere Erinnerungen gehen dahin, dass wir statistisch ungefähr richtig liegen. (...) Irgendwo ist im Gehirn gespeichert, was ich vorigen Mittwoch gefrühstückt habe. Doch daran heranzukommen, ist nicht einfach. Die Information verschwimmt mit dem Frühstück vom Donnerstag und vom Montag. Man hat sofort Zugriff auf die Information, was man üblicherweise, aber eben nicht zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zum Frühstück isst."
Reflex und Reflexion
Das menschliche Gehirn besteht aus zwei Systemen. Gary Marcus nennt sie das Reflex- und das Reflexionssystem. Ersteres, das Reflexsystem, ist evolutionsgeschichtlich älter. Es ist für Emotionen und etwa für die Kampf- oder-Flucht-Reaktion zuständig. Darüber hat die Evolution das Reflexionssystem mit der Fähigkeit, nachzudenken und abzuwägen, gebaut. Die Kooperation beider Systeme sei alles andere als ideal. Das erklärt vieles - angefangen vom unlogischen Aufbau der Sprache bis zum Scheitern von Diäten.
"Dem Reflexsystem verdanken wir unsere Gefühle und auch den Wunsch, dass wir jetzt Pommes Frites essen wollen", so Marcus. "Diese Abläufe sind automatisch, sie haben nicht sehr viel Tiefgang. Wenn auf dem Tisch Salz und Zucker stehen, sagt das Reflexsystem: Wenn ich das vor mir habe, esse ich es auch. Das Reflexionssystem funktioniert dagegen eher wie die Höchstrichter: Man nimmt sich zum Nachdenken Zeit und überlegt, wie ein Detail in ein Ganzes hineinpasst. (...) Diese beiden System stehen dauernd miteinander in Konkurrenz."
Ziele setzen, aber Grenzen erkennen
Das Reflexsystem, als das evolutionsgeschichtlich ältere, funktiert für sich genommen klaglos. Das Reflexionssystem als die jüngere Struktur ist verbesserungsbedürftig. Gary Marcus plädiert dafür, dass man die menschliche Intelligenz gezielt und bewusst einsetzt, um den evolutionsgeschichtlichen Murks zu korrigieren.
"Als erstes sollte man seine Grenzen erkennen", meint er. "Wenn man merkt, dass man sich zwar Ziele setzt, doch diese nicht verfolgt, könnte man fragen: Was bringt mich ab? Denn wenn man merkt, wo man an Grenzen stößt, kann man etwas dagegen unternehmen. Es ist zum Beispiel so, dass Leuten oft auffällt, wenn Fakten zu einer bestimmten Theorie passen, - und zwar immer zu ihrer eigenen. Bei den Theorien von anderen sind sie weniger aufmerksam."
Diese Art des disziplinierten Denkens wird auf Universitäten gedrillt. Doch wenn es nach Gary Marcus geht, fängt man damit am besten schon in der Schule an. Er erzählt von vielversprechenden Experimenten:
"Am Ende meines Buches schreibe ich über Experimente, Kindern Philosophie zu lehren. Der Hauptgrund dafür ist, ihnen beizubringen, ihre Fähigkeiten zum Nachdenken besser zu nutzen. Es gibt noch nicht sehr viel Datenmaterial dazu, weil man erst wenige Versuche gemacht hat. Aber es dürfte sich positiv auswirken, wenn man Zehnjährigen Philosophie beibringt. Natürlich verstehen sie nicht jedes komplexe Detail, doch sie begreifen, worum es geht. In Tests hat man gesehen, dass ihre verbale Ausdrucksfähigkeit dadurch zunimmt. Es gibt also messbare Ergebnisse. Das bedeutet: Man kann das reflexive System fördern und Leuten beibringen, dieses zu nutzen."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Gary Marcus, "Murks. Der planlose Bau des menschlichen Gehirns", aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrich Enderwitz, Hoffmann und Campe
Link
Hoffmann & Campe - Murks