Sozialkritischer Blick auf China

Der Überdruss

"Ein Schriftsteller muss beim Schreiben im Einklang mit seinem Gewissen handeln und darf keine Angst haben", meint der chinesische Schriftsteller Mo Yan. Kritik am offiziellen China verpackt Mo Yan allerdings in Metaphern und Parabeln.

Meine Geschichte beginnt im Jahr 1950. Es ist der 17. Februar, der Neujahrstag des chinesischen Kalenders. Ich habe mehr als zwei volle Jahre im Gerichtshof der Unterwelt und in den Folterkammern der Hölle verbracht. Unaussprechliche Folterstrafen jeder Couleur erlitt ich. Menschen in der Oberwelt werden sich das Ausmaß der Qualen nicht vorstellen können. Jedes Mal, wenn ich vor Gericht neu vernommen wurde, erging ich mich laut klagend in Beschwerden über die demütigenden Ungerechtigkeiten. Meine wüste Stimme schallte durch den Palast der Unterwelt.

Der ehemalige Grundbesitzer Ximen Nao ist die zentrale Gestalt in "Der Überdruss", dem neuen Roman von Mo Yan. Auch die schlimmsten Foltern können ihn nicht dazu bewegen, die Anklagepunkte zu akzeptieren und sich schuldig zu bekennen. Schließlich kommt Yama, der Herrscher der Unterwelt, mit seinen Richtern zu einem überraschenden Urteil:

Es reicht, Ximen Nao. Ich weiß, dass du zu Unrecht gestorben bis. Viele, die leben, verdienen den Tod und viele, die sterben, verdienen das Leben. Das Gericht macht eine Ausnahme und erteilt dir eine Amnestie. Wir schicken dich zurück in die Oberwelt.

Das Leben der Bauern

Ximen Nao wird nicht als Mensch wiedergeboren, sondern zunächst als Esel und danach in Form diverser anderer Tiere. Seine Enttäuschung ist groß, auch in animalischer Gestalt aber kann er das Schicksal seiner eigenen Familie vor dem Hintergrund der turbulenten Geschichte Chinas weiter verfolgen. Den in der deutschen Übersetzung 800 Seiten dicken Roman "Der Überdruss" lässt Mo Yan erneut am Land spielen.

"Ich befasse mich mit dem Leben der Bauern von 1949 bis zum Jahr 2000", erzählt Mo Yan im Gespräch. "In dieser Zeit - den ersten fünf Jahrzehnten nach der Gründung der Volksrepublik China - hat es so viele große und radikale Veränderungen, ja Umbrüche gegeben. Die Bauern- und Landfrage halte ich bis heute für eine der zentralen Fragen in China. Wer das nicht versteht, versteht China nicht. Heute verlieren die Bauern immer mehr von ihrem Boden und ihrer Lebensbasis, daher ziehen sie in die Städte, um sich dort als arme Wanderarbeiter zu verdingen. Das ist ein riesiges soziales Problem."

Starke gesellschaftliche Veränderungen

Mo Yan wurde selbst 1956 in dem Bauerndorf Gaomi in der ostchinesischen Provinz Shandong geboren, wo er die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 musste er die Schule abbrechen und alle möglichen Arbeiten machen. Schließlich trat er in die Volksbefreiungsarmee ein, wo er Ende der 1970er Jahre zu schreiben begann.

"Seither hat sich die chinesische Gesellschaft sehr stark verändert", meint Mo Yan. "Ich selbst lebe seit Jahren in Peking. Wie so viele andere Chinesen wollte ich nach der Kulturrevolution unbedingt weg vom Land. Aber Gaomi ist meine literarische Heimat geblieben. Dort habe ich so vieles erlebt, das auch in meine Bücher einfließt. Außerdem haben mich schon früh die guten Geschichtenerzähler am Dorf beeindruckt. So wie sie wollte auch ich einmal lange Geschichten erzählen können. Das sind natürlich nicht immer schöne Dinge, die ich da erzähle. Dazu gehört beispielsweise die Bodenreform, in deren Zuge viele Grundbesitzer hingerichtet wurden. Die Bodenreform war meiner Ansicht nach ja durchaus zu begrüßen, eine gerechtere Landverteilung hatten die kleinen Bauern verdient. Aber die Methoden waren einfach nicht in Ordnung."

Erfolg beim Publikum

Seine sozialkritische Perspektive hat Mo Yan in China immer wieder auch Kritik seitens des Regimes eingetragen. Einer seiner Romane wurde in den 1990er Jahren vorübergehend sogar verboten. Beim Publikum sind seine Bücher aber gerade wegen ihrer schonungslosen Schilderung diverser Missstände stets gut angekommen, sagt Mo Yan:

"Ein Schriftsteller muss gesellschaftskritisch sein, er muss beim Schreiben im Einklang mit seinem Gewissen handeln und darf keine Angst haben. Und wenn ein Schriftsteller wie ich die von Gewalt und Elend und vielen anderen schlimmen Dinge geprägte Zeitgeschichte Chinas miterlebt hat, muss er sie in seinen Werken thematisieren. In dem Buch 'Der Überdruss' schreibe ich viel über Politik und spreche Fragen wie Demokratie an. Das mache ich natürlich nicht ganz direkt, sondern durch Metaphern und Parabeln. Offizielle Kritik macht mir keine Sorgen. Außerdem macht die chinesische Gesellschaft trotz allem Fortschritte, sie hat sich in den vergangenen 30 Jahren so stark geöffnet und liberalisiert. Und verhaftet bin ich ja auch nicht worden."

Kommentator Mo Yan

In "Der Überdruss" spielt auch Mo Yan selbst mit - als Kommentator des Geschehens, dessen Darstellungen vom Protagonisten aber selbst mit Skepsis betrachtet werden. In seiner Inkarnation als Schwein meint der ehemalige Grundbesitzer Ximen Nao:

Mo Yan liebte schon immer Gerüchte und Täuschungsmanöver. Man ist sich nie sicher, ob das, was er in seinen Romanen schreibt, ernst zu nehmende Wahrheiten sind, ob in jedem Fall Zweifel angebracht sind oder ob es nur zum Teil die Wahrheit wiedergibt. (...) Wie alle wissen, stammen die Schweine aus den Yimeng-Bergen. Aber er ändert es einfach in Wulianshan-Gebirge. Doch eigentlich ist es nicht nötig, einen Schriftsteller, der das Ganze für einen Roman verwertet, auf solche Einzelheiten festzunageln.

Vielschichtige chinesische Literatur

"Was ich immer wieder feststelle, ist, dass westliche Kritiker meine Werke vielmehr aus soziologischer Perspektive lesen", meint Mo Yan, ohne sich im Geringsten daran zu stoßen. Schließlich sei Literatur einer von vielen Wegen, auf denen man sich einem fremden Land annähern könne. Und wer wolle schon vorschreiben, wie man Literatur zu lesen habe. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten chinesischen Geschichte steht er Regeln sehr kritisch gegenüber.

"Chinesische Kritiker befassen sich heute mehr mit den stilistischen und literarischen Qualitäten von Romanen", so Mo Yan. "Inzwischen hat sich aber auch die Rolle der Literatur in China verändert. In der Mao-Ära wurde sie als Waffe der Revolution eingesetzt, erst seit den 1980er Jahren können Autoren die Wirklichkeit so beschreiben, wie sie war oder ist. Ich habe mich damals in meinem Roman mit der Frage nach der Freiheit des Individuums auseinandergesetzt. Nach dem Ende der Mao-Ära war das damals ein wichtiges Anliegen. Inzwischen ist die zeitgenössische chinesische Literatur immer vielschichtiger geworden, aber sie tritt auch immer mehr in den Hintergrund. Nur eine Minderheit interessiert sich wirklich dafür. Wirtschaft, Karriere und Konsum bestimmen immer mehr das Leben der Menschen. Aber ich sehe das nicht unbedingt als ein Problem, eher als ein normales Phänomen."

Ein Phänomen, das sich dennoch weit von den Worten des Buddha entfernt, die Mo Yan seinem Roman voranstellt.

Der Buddha spricht:
Der Überdruss im Leben wie im Tod
Entspringt aus den Begierden.
Weniger Gier und mehr Stille
Machen Körper und Geist leicht und frei.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Mo Yan, "Der Überdruss", aus dem Chinesischen von Martina Hasse, Horlemann Verlag

Link
Horlemann Verlag - Mo Yan