Neue Formen der Leistungsbewertung
Eins bis Fünf
Die Schule hat sich seit Arthur Kupfer, dem Lehrer aus dem Roman "Der Schüler Gerber", vollkommen verändert. Besonders tiefgreifend war diese Veränderung in den letzten Jahren. Am nachhaltigsten war sie beim Umgang von Lehrern und Schülern.
8. April 2017, 21:58
Die Lernkultur von heute unterscheidet sich ganz grundlegend von jener, die noch vor zehn oder fünfzehn Jahren Alltag in den Schulen war: In Notebook-Klassen bearbeiten selbstorganisierte Kleingruppen europäische Projekte. Bei Sprachwochen in Frankreich oder in Spanien recherchieren die Schüler und Schülerinnen eigenständig zu ihren Schwerpunkthemen.
Und im computerunterstützten Unterricht, in den das Internet wie selbstverständlich eingebunden ist, sind Beamer und PowerPoint-Präsentationen in vielen allgemein- oder berufsbildenden höheren Schulen seit langem vollkommen übliche Unterrichtsmittel.
Aber am nachhaltigsten verändert hat sich der Umgang von Lehrer/Innen und Schüler/Innen miteinander.
Niemand ist glücklich mit dem Notensystem
Ein wesentlicher Aspekt ist in den Schulen bisher aber dennoch weitgehend traditionell geblieben: die Leistungsbeurteilung. Und das, obwohl mit dem althergebrachten Notensystem nicht nur die meisten Schüler/Innen und deren Eltern unglücklich sind, sondern auch die meisten Lehrer und Lehrerinnen. Didaktiker/Innen und Bildungswissenschafter/Innen suchen deshalb längst nach Alternativen zu "Sehr gut" und "Nicht genügend".
Schließlich soll die Leistungsbewertung in den Schulen für alle Beteiligten transparenter werden, (europaweit) vergleichbar und wesentlich effektiver.
Auf den ersten Blick halbwegs gerecht
Das Bild vom Lehrer, der vorsätzlich ungerecht und vollkommen willkürlich benotet, lässt sich übrigens recht leicht als oberflächliches Klischee widerlegen. "Etwa 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler erleben die Leistungsbeurteilung durch ihre Lehrerinnen und Lehrer als sehr gerecht", betont Georg Hans Neuweg, Professor für Berufs- und Wirtschaftspädagogik an der Johannes-Kepler-Universität in Linz.
"Lehrer/Innen sind durchaus sehr gut in der Lage, die Leistungen der Schüler/Innen in die korrekte Rangfolge zu bringen - in ihrer Klasse. Wenn Martha mit "befriedigend" beurteilt wurde und ihr Klassenkollege Max mit "genügend", dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Martha tatsächlich bessere Leistungen bringt als Max."
Schüler/Innen und Eltern tendieren daher dazu, das System der schulischen Leistungsbeurteilung im Großen und Ganzen als in Ordnung zu empfinden.
Mängel werden erst im externen Vergleich sichtbar
"Dass das System gravierend nicht in Ordnung ist, wird erst offenbar, wenn wir Schülerleistungen extern messen. Dann kann klassenübergreifend verglichen werden. Wir würden erwarten, dass annähernd gleiche Leistungen gleiche Noten erhielten. Unabhängig von der Lehrperson, in beliebigen Parallelklassen des gleichen Schultyps, egal in welcher Schule. Österreichweit. Dem ist aber keineswegs so", beklagt Bildungsforschungsexperte Georg Hans Neuweg. "Und zwar in einer dramatischen Weise nicht!"
So wurden beispielsweise in dritten Klassen AHS die Kompetenzen der Schüler/Innen in Mathematik verglichen. Es zeigte sich, dass die beste und die schlechteste Klasse um etwa zwei Lernjahre auseinanderlagen. Dennoch waren die Notenverteilungen in den beiden Klassen praktisch identisch. Georg Hans Neuweg erläutert, was das konkret bedeutet: "Ein Schüler, der in der schlechtesten der getesteten dritten AHS-Klassen ein 'Gut' hat, würde in der besten glatt durchfallen."
Unfaires System mit unterschiedlichen Funktionen
Ungerecht beurteilen also nicht die Lehrer und Lehrerinnen. Unfair ist das System der Leistungsbeurteilung an sich. Die gravierenden Defizite hinsichtlich der Gerechtigkeit sind aber nur ein Aspekt der fatalen Probleme um die schulische Leistungsbeurteilung.
Ein anderer ist das fundamentale Dilemma, dass die Leistungsbewertung gänzlich unterschiedliche Funktionen erfüllen muss. Noten sollen einerseits als Mittel zum lernsteuernden Feedback fungieren, andererseits dienen sie zur Selektion. Und damit zur Vergabe von entscheidenden Lebenschancen.
Kaum zu vereinbaren
Die beiden Funktionen der Leistungsbeurteilung sind kaum zu vereinbaren. Sie kollidieren gehörig, vor allem in den Köpfen und in den Seelen der Lehrer/Innen. Viele von ihnen quälen sich Jahr für Jahr mit diesem Dilemma ab. "Während des Schuljahres sollen sie die Schüler/Innen im Lernprozess motivieren, wohlwollend fördern und unterstützen. Und die allermeisten tun das auch mit großem persönlichem Einsatz. Aber wenn dann die Zeugnisse ausgestellt werden, müssen sie manchen mitteilen: Du hast es leider nicht geschafft." Thomas Stern, Experte für Lernerfolgsmessung mit Bezug zu Bildungsstandards, beschreibt damit den leidigen Spagat, zu dem Lehrer/Innen in ihrer zwiespältigen Rolle gezwungen sind.
Auf der Suche nach Lösungen
Der Ausweg? Gabriele Friedl-Lucyshyn, Leiterin des Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens in Wien, sieht den Ausweg in der Entkoppelung der Lehrerrollen: "Es ist schwer, Coach und Beurteilender zugleich zu sein."
Gabriele Friedl-Lucyshyn hält deshalb externe Prüfungen für sinnvoller. Und Thomas Stern vertritt mit Verve und Passion, dass mit den geeigneten Methoden und Mitteln aus der fatalen Leistungsbeurteilung eine förderliche Leistungsbewertung werden kann.
Service
Buch: Thomas Stern, "Förderliche Leistungsbewertung", herausgegeben vom Österreichischen Zentrum für Persönlichkeitsbildung und soziales Lernen, Wien 2008, pdf-Version unter oezeps.at
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