Ein Formen zertrümmernder Klassizist

Beethovens Reinkarnation?

Zu Lebzeiten berühmter als Schubert, Mendelssohn, Schumann, heute - trotz des "Spohr-Jahrs 2009" - vergessen: das Schicksal des vor 150 Jahren verstorbenen Komponisten (und Violinvirtuosen) Louis Spohr, der in vielem Pionier war.

Es war keine Privatmeinung, was Olivia Buckley-Dussek, selbst Virtuosin und Komponistin, 1843 in ihrem Büchlein "Musical Truths" zu Papier brachte: Nach Ludwig van Beethoven hätte Deutschland keinen größeren Komponisten hervorgebracht als Hofkapellmeister Louis Spohr - mehr noch: Beethoven "re-exists in the sublime Spohr".

Anfang der 1840er Jahre hatte Spohr mehrere Englandreisen unternommen und dort mit Opern, Oratorien, Symphonien, Konzerten Begeisterung ausgelöst, auch bei der Musikkritik, die ihn allmählich über Felix Mendelssohn-Bartholdy, dem ebenfalls in London Erfolgreichen, stellt. Nach Mendelssohns Tod 1847 trompetete der "Spectator": "Jetzt aber liegt Händels Mantel ungeteilt auf den Schultern des ehrwürdigen Musikers aus Kassel"!

Anregungen für Berlioz, Wagner, Tschaikowsky

"Händels Mantel" - weil Spohr wie Händel aus Deutschland auf die britische Insel gekommen war, aber auch, weil seine Oratorien wie "Der Fall Babylons" und "Das jüngste Gericht" als zeitgenössisches Nonplusultra empfunden wurden. In Frankreich inspirierte Spohrs bahnbrechender Umgang mit musikalischen "Erinnerungsmotiven" Hector Berlioz zur "idée fixe" der "Symphonie fantastique", in Russland zitierte noch Tschaikowsky in seiner "Pathétique" den Finalsatz aus Spohrs Programmsymphonie "Weihe der Töne", nach Skandinavien trugen Spohrs Kompositionsschüler den Ruhm ihres Meisters.

In Wien gehörten Brahms und Mahler zu den Spohr-Verehrern, und dass die "romantischen" Opern "Jessonda" und "Faust", in denen sich Spohr zumindest so sehr als Formschema-Zertrümmerer betätigt hatte wie Carl Maria von Weber und Heinrich Marschner, auf Richard Wagner Eindruck machen mussten, liegt auf der Hand.

Todsünde Blutleere: der "Klassizist" Spohr am CD-Markt

Wer sich heute "seinen" Spohr hörend erobern will, steht nicht gerade vor dem Nichts: Die wichtigsten Opern sind dokumentiert, die bestehenden, schon etwas angejahrten Einspielungen von Orchestermusik werden im "Spohr-Jahr" 2009, zum 150.Todestag des Komponisten, zügig ergänzt, Kammermusik und Lieder muss man allerdings weiter mit der Lupe suchen, und die Aufnahmen von Louis Spohrs Oratorien sind großteils so blutleer musiziert, wie gerade Spohrs Musik es gar nicht verträgt. (Einzige Ausnahme: "Die letzten Dinge" in einer neuen CD-Version auf Originalinstrumenten unter der Leitung von Bruno Weil.)

Denn diese Musik hat ein Problem, das schon Ende des 19.Jahrhunderts dazu führte, dass der Name Louis Spohr von den Konzert- und Opernprogrammen auf Nimmerwiederkehren verschwand: Sie mag zu ihrer Zeit formal innovativ gewesen sein, wahrt im Ausdruck aber allzu oft wohlklingende, abgerundete, ebenmäßige Klassizität, wie sie die "Klassiker" selbst nie kannten. Gäbe es mehr Spohr-Einfälle wie die entfesselte Sturmmusik und den (langsamen!) Finalsatz der "Weihe der Töne"-Symphonie (einer von neun vollendeten Symphonien, à la Beethoven), der 1784 in Braunschweig Geborene wäre uns heute sicher noch ein Begriff.

Vom unerwarteten Seßhaft-Werden eines Universalgenies
Die Biographie des Komponisten (Clive Brown hat sie niedergeschrieben, eine deutsche Übersetzung ist neu am Markt) bleibt interessant: Als zugleich Geigenvirtuose, der mit Paganini konkurrierte, europaweit konzertierte und als Lehrer schulbildend wirkte, Dirigent und Pionier des "modernen" Orchesters (und der Taktstock-Verwendung), Komponist und Musikschriftsteller war Louis Spohr "Universalgenie".

Über weite Strecken Autodidakt, wagte er als junger Mann Kunstreisen quer über den Kontinent, um sich fortzubilden. Waren wo die Umstände gegen ihn - wie in den 1810er Jahren in Wien, wo er am Theater an der Wien als Kapellmeister wirkte -, zog er weiter. Weber vermittelte ihn nach Kassel, und dort wurde Spohr mit 38 als fürstlicher Hofkapellmeister unerwartet, dafür umso entschlossener und auf Lebenszeit sesshaft.


Quartett-Konzert und Opernszene für Solovioline
Den 73-Jährigen musste man gegen seinen Willen pensionieren: Er wäre ewig im Amt geblieben, ein Streichquartett nach dem anderen komponierend (28 wurden es in Summe), und noch ein Violinkonzert (Geigerinnen und Geiger können aus 15 Spohr-Konzerten wählen). Aber dazwischen blitzten dann doch wieder originellste Stücke auf, wie sie nur ihm eingefallen sind: ein Konzert, bei dem ein ganzes Streichquartett den "Solopart" übernimmt, oder das Violinkonzert "in Form einer Gesangsszene".

Hillary Hahn hat dieses achte der Spohr-Violinkonzerte zuletzt (hinreißend) eingespielt: eine "Opernszene", mit Rezitativ, Cantabile und virtuoser Cabaletta, musikalisch irgendwo zwischen Rossini und Spohrs eigenem Opernstil, bei dem die Violine so "sprechend" singt, dass niemand einen Text vermisst.

Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 15. Oktober 2009, 15:06 Uhr

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