Die Menschenrechtsaktivistin Pinar Selek im Gespräch
Das Reformtempo der Türkei ist nicht schnell genug
Die Verletzung von Bürgerrechten stellt nach wie vor ein großes Hindernis für die Annäherung der Türkei an die EU dar, sagt der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission. Das sieht auch die türkische Menschenrechtsaktivistin Pinar Selek so.
8. April 2017, 21:58
Pinar Selek, die 38-jährige Soziologin aus Istanbul, lebt seit einigen Monaten im deutschen Exil. Sie hat sich in ihrer türkischen Heimat als Feministin und Friedensaktivistin, als Betreuerin von Straßenkindern und als kritische Buchautorin über das türkische Militär einen Namen - und auch zahlreiche Feinde gemacht.
Als Pinar Selek an einem Forschungsprojekt über den Bürgerkrieg gegen die Kurden arbeitete, geriet sie unter Terrorverdacht, wurde zweieinhalb Jahre lang ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Obwohl sie zweimal freigesprochen wurde, muss sie immer noch gegen den Verdacht ankämpfen, vor elf Jahren eine Bombe in einem Basar gezündet zu haben.
Die Sachverständigen des Gerichts hatten zwar festgestellt, dass die Explosion am Markt nicht durch eine Bombe, sondern durch eine defekte Gasflasche ausgelöst wurde, dennoch wird versucht, Pinar Selek neuerlich vor Gericht zu bringen.
"Bergtürkisch" als verbotene Sprache
Verdächtig gemacht hat sich die Soziologin, weil sie sich zu einem Zeitpunkt für die Rechte der kurdischen Minderheit einsetzte, als diese im offiziellen Sprachgebrauch noch "Bergtürken" hießen. In den letzten Jahren, so sagt sie, habe es aber doch einige Fortschritte gegeben.
Mittlerweile spricht die türkische Regierung von "Kurden" statt von "Bergtürken", es gibt kurdische Fernsehsender und kurdische Musik im Radio. "Aber wenn ein Abgeordneter ein Schriftstück auf Kurdisch verfasst, bekommt er dafür eine Gefängnisstrafe", erzählt Selek.
Zwar gebe es private Kurdisch-Sprachkurse, aber in den staatlichen Schulen werde Kurdisch nicht unterrichtet: "Die Kinder haben dadurch große Probleme. Zu Hause sprechen sie natürlich Kurdisch und wenn sie in die Schule kommen, ist Kurdisch verboten, so wie überall im öffentlichen Leben."
In den Bergen tobt der Krieg
Als positiven Anfang sieht sie, dass seit einiger Zeit von einer demokratischen Öffnung die Rede sei und auch, dass mittlerweile offen und breit über die kurdische Untergrundorganisation PKK gesprochen werde: "Dass der Ministerpräsident sich überhaupt öffentlich hinstellt und sagt: die Mütter der getöteten Soldaten trauern, aber die Mütter der getöteten Kurden trauern genauso - das war schon sehr wichtig."
Bislang gebe es aber keine konkreten Lösungsansätze, um den Krieg zu beenden, sagt Pinar Selek. Die Militäraktionen gehen weiter. In den Bergen werden nach wie vor Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen getötet: "Ich habe Angst - so wie viele Menschen. Denn wenn die Entwicklung so weiter geht, werden die Leute den Glauben an das Friedensprojekt verlieren, vor allem wenn weiterhin Volksverhetzung betrieben wird. Immer noch werden sehr nationalistische Aussagen getätigt."
Viele Schritte bis zur Demokratie
Für demokratische Reformen in der Türkei, so sagt Pinar Selek, sei der Druck, den die Europäische Union auf Ankara ausübt, sehr wichtig. Dadurch sei eine demokratische Bewegung entstanden: "Nehmen Sie nur den 1. Mai. Obwohl es eigentlich verboten ist, gab es am 1. Mai am Taksim-Platz in Istanbul eine große Kundgebung der Gewerkschaft. Verbote können die Entwicklung der Gesellschaft nicht unterdrücken."
In der Türkei werde zum Teil bereits Politik gemacht, die in Richtung Europa gehe. Für Pinar Selek geht das aber noch viel zu langsam: "Für uns ist es gut, wenn von außen Druck auf die Regierung gemacht wird und wir müssen währenddessen Druck von innen erzeugen, damit noch mehr Schritte in Richtung Demokratie gemacht werden."
Schwulenparaden und Ehrenmorde
Dass dieser Weg - der zur Demokratisierung ebenso, wie der in die Europäische Union - wohl noch ein langer und steiniger werden wird, ist für Pinar Selek klar, denn die Türkei, so sagt sie, sei ein Land der Gegensätze: "Einerseits ist man fortschrittlich genug für eine Schwulenparade, andererseits gibt es immer noch Ehrenmorde an Frauen."
In nächster Zeit wird Pinar Selek die Entwicklungen in der Türkei aus sicherer Distanz beobachten. Für einige Monate noch lebt sie mit einem Stipendium der Heinrich Böll Stiftung in Köln und schreibt ihren ersten Roman. Mit der Rückkehr in die Türkei, die sie sehr vermisst, will sie warten, bis sie sich dort wieder sicher fühlen kann.
Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 16. Oktober 2009, 18:20 Uhr
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Pinar Selek