Kleine Kulturgeschichte des Haars

Über den Fortschnitt

Afro-Look, Bubikopf, Dutt, Irokesenschnitt, Pagenkopf, Pferdeschwanz, Pompadour, Rastalocken, Tolle, Zopf... Der Gestaltung des Kopfschmucks sind scheinbar keine Grenzen gesetzt und er hat sich durch die Jahrhunderte auch sehr verändert.

Haare gelten seit alters her als Sitz der Kraft. Davon erzählt eine Geschichte aus dem Alten Testament. Da bringt weibliche List einen Mann um seine Macht: Nachdem die Philisterin Delilah herausgefunden hat, dass das Geheimnis von Samsons unbezwingbarer Stärke in seinem Haar liegt, schneidet sie es ihm nachts heimlich ab und liefert ihn an ihr Volk aus. Eines Tages bemerkt er dann, dass seine Kräfte mit den Haaren wieder nachgewachsen sind. Er drückt zwei Säulen des Tempels, in dem er dient, mit bloßen Händen auseinander und lässt das Gebäude über den Philistern einstürzen.

Lebendig und tot zugleich

Haare haben als Körperteil seit jeher einen besonderen Status, sagt Ralf Junkerjürgen, Professor für Romanische Kulturwissenschaft in Regensburg. In der antiken Medizin werden sie mit Gräsern verglichen, als Symbol für Wachstum und Fruchtbarkeit:

"Haare wachsen in sehr großer Zahl und dadurch stehen sie für Fülle und Leben", sagt er. "Zugleich kann man es aber abschneiden und das tut nicht weh und blutet nicht wie bei anderen Körperteilen. Das Haar nimmt also eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen etwas Lebendigem und etwas Totem ein."

Fetisch und Zaubermittel

Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens gibt seitenweise darüber Auskunft, was alles mit Haaren getan werden muss oder nicht getan werden darf: Ausgekämmtes Haar darf nicht einfach weggeworfen, sondern muss vergraben oder verbrannt werden; im magischen Denken vertritt es nämlich den ganzen Körper.

Fremdes Haar in die eigene Gewalt zu bringen, kann Macht verleihen, das erzählt zum Beispiel das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Deshalb eignen sich Haare hervorragend als Fetisch oder Zaubermittel: Vorstellungen von Haarzauber sind in allen Kulturen nachweisbar, Liebeszauber etwa: Da werden die eigenen Haare in Speisen gemischt, damit der oder die Angebetete einen Teil von einem selbst aufnimmt. Heute noch schwören nigerianische Frauen in Voodoo-Ritualen bei ihren Schamhaaren, die Menschenhändler nicht zu verraten, die sie nach Europa bringen.

Blond war nicht immer doof

Ralf Junkerjürgen hat eine Kulturgeschichte der Haarfarben verfasst und darin kann man nachlesen, warum Blondinen als dumm gelten und dass das nicht immer so war. Als blond stellte man sich ursprünglich die griechischen Götter und Helden vor. Die wallenden Frisuren eines Apollon oder einer Venus wurden mit Sonnenstrahlen verglichen. Und das Jesuskind ist anders als blondgelockt kaum denkbar.

In der antiken Physiognomik, die häufig in überaus abstrusen Theorien von äußerlichen Merkmalen auf Charakterzüge schloss, war blond mit göttlich, strahlend und in Analogie zum Löwen mit mutig durchwegs positiv besetzt. Auch Herrschergestalten wie Alexander der Große wurden daher blond vorgestellt.

Rote Füchse

Rothaarige hingegen brachte bereits Aristoteles mit dem Fuchs und dessen Schläue und Hinterlist in Verbindung. Und Rot blieb jahrhundertelang die Farbe des Stigmas und der gesellschaftlichen Ausgrenzung: Judas wurde häufig rothaarig dargestellt, der rothaarige Jude ist in Russland ein bis heute verbreitetes antisemitisches Klischee. Rote Haare haben Hexen und die Männer fressende Femme fatale, Rothaarige sind auch einfach bedauernswert und hässlich: Titus Feuerfuchs in Johann Nestroys "Talisman" zum Beispiel.

Seit den 1960er Jahren haben rote Haare allerdings eine krasse Verschiebung ins Positive erfahren: Nunmehr gelten sie, hennagefärbt, als leuchtende Farbe der Frauenemanzipation, während blond mit neuen Vorurteilen zu kämpfen hat: Die sanftmütige, engelsgleiche und keusche Blondine, im 19. Jahrhundert Inbegriff der ehrbaren Frau, verlor im 20. Jahrhundert an Kurswert. Die frühen Hollywood-Ikonen haben allesamt blond-gefärbtes Haar und sie verkörpern einen Frauentypus, der nicht besonders intelligent, aber sehr sexualisiert ist, wie die typischen Monroe-Rollen.

Zeichen der weiblichen Unabhängigkeit

Die Kulturgeschichte des Haars liefert Stoff für eine Kulturtheorie zum Geschlechterdiskurs, nicht nur, was die veränderlichen Klischees der Haarfarben betrifft. Die Frauenbefreiung geht einher mit der Befreiung von komplizierter Haartracht, spätestens, als man die überwältigende Alltagstauglichkeit des Bubikopfs entdeckte, sagt der Historiker Klaus Mayr, der eine Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht verfasst hat: "Das kurze Haar der Frau ist eine Entfeminisierung gewesen, die erst seit den 20er Jahren zur Mode geworden ist, zur politischen Mode."

Im Kampf um die weibliche Unabhängigkeit werden im 20. Jahrhundert im wahrsten Sinn des Wortes "alte Zöpfe" abgeschnitten. Und andere Haare wachsen wieder nach: 1968 verbrannten Frauen nicht nur ihre BHs, sie riefen auch zum Boykott der Beinenthaarung auf. Lange Zeit davor hatte das angeblich schon Katharina von Medici getan. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Körperbehaarung allerdings wieder out, inzwischen bei beiden Geschlechtern.

Manipulierbare Dekoration

Die Konjunktur von Haarmoden erzählt also auch ein spannendes Stück Gesellschaftsgeschichte, und das gerade deshalb, weil jede Bedeutungsgrundlage fehlt, denn Haare haben ja keine biologische Funktion: Weder eignen sie sich zum perfekten Sonnenschutz, noch sind sie ein wärmendes Fell. Haare sind Dekoration und als solche hervorragend manipulierbar, darüber hinaus sind sie neben der Hautfarbe das am weithin sichtbarste Körpermerkmal und deshalb werden sie häufig überbewertet, sagt Ralf Junkerjürgen:

"Vor allem in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts, die zu den Rassenideologien geführt hat, wurden die Haarfarben extrem stark überbewertet. Das lässt sich biologisch nicht rechtfertigen. Haare wirken viel stärker, als ihr Status das eigentlich erlaubt, das ist das Merkwürdige und das Faszinierende."

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 17. Oktober 2009, 17:05 Uhr

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