Transzendentale stimmliche Virtuosität

Cecilia Bartolis "Sacrificium"

Mit Vivaldi, Gluck und Salieri gewidmeten Solo-CDs hat Cecilia Bartoli viele barocke Opern-Schätze gehoben. Jetzt nimmt sie sich in einem neuen, "Sacrificium" betitelten Album der Musik der Starkastraten-Ära an: mit transzendentaler stimmlicher Virtuosität.

Niemand weiß, wie Kastraten wirklich geklungen haben. Die einzige in der Trichter-Ära kurz nach 1900 auf Schellacks festgehaltene "wahre" Kastratenstimme, die von Alessandro Moreschi, war eine Stimme im Niedergang, Nachklang einer verloschenen Ära - selbst in der Sixtinischen Kapelle, im Kirchenraum, wo der Aufstieg der Kastraten ab dem 16. Jahrhundert begonnen hatte, waren sie durch Dekret von Papst Pius X. zu dieser Zeit bereits verboten.

Das Fehlen relevanter Tondokumente macht eines der faszinierendsten Kapitel in der Geschichte der Gesangskunst zusätzlich geheimnisvoll: Die von den Zeitgenossen oft beschriebene Glorie der Kastratenstimme braucht die Nachgeborenen-Phantasie, um wiederzuerstehen - und so hell artifizielle Spitzenleistungen leuchteten, so dunkel konnten Lebensschicksale abseits der schmalen Gilde international gefragter "Starkastraten" aussehen.

Wie man sich Kastratenstimmen vorstellt

Wie kann das gewesen sein, eine Stimme von weiblicher Süße, mit der Lungenkraft und dem Volumen einer männlichen (wenngleich äußerlich oft grotesk entstellten) Physis zum Klingen gebracht? Die "historische Aufführungspraxis" des 20. und 21. Jahrhunderts behilft sich - oft - mit dem das Falsett-Register nützenden Countertenor als Kastraten-"Ersatz": Der Reiz des "Zwischen-den-Geschlechtern"-Stehens geht auch von Countertenören aus ("Frauen"stimme im Männerkörper - es ist nicht lange her, dass es im Konzertsaal Lacher setzte!), aber dass ein Countertenor speziell Zuhörerinnen reihenweise in Ohnmacht hätte fallen lassen, diese von historischen Kastraten-Auftritten berichteten Stimm-Wirkungen sind bei Countertenören doch eher selten geblieben...

Am besten stellt man sich die crème de la crème der barocken Opern-Wunderstimmen vor als durch ein engmaschig kodifiziertes Stimmübungs-Regelsystem in langjährigem Studium zu den gesuchtesten Gesangskunststücken befähigte Singmaschinen: Keine noch so behände Koloratur-Abschattierung war ihnen zu kleingliedrig, keine noch so ausufernde Melodie zu lang, kein An- und Abschwellen der Lautstärke außer Reichweite.

Große Karrieren und unzählige Leidensgeschichten

Den im Knabenalter ohne Einspruchsmöglichkeit geschlechtslos gemachten "Engeln wider Willen" hat schon in den 1990er Jahren Hubert Ortkemper in Buch und Fernsehfilm nachgespürt, und Gérard Corbiaus zeitgleich entstandene opulente "Farinelli"-Filmbiographie (mit aus "natürlichem" Sopran und Countertenor, durch Mix beider Geschlechterklänge, digital kreierter Idealstimme für den Soundtrack) war ebenso bemüht, den Titelhelden (recht frei nach historischen Quellen) applausumtost, aber morbid-melancholisch zu zeichnen. In die selbe Kerbe schlägt nun Cecilia Bartolis neueste Solo-CD, die deshalb "Sacrificium" heißt, weil im lehrbuchhaft ausführlichen Beiheft besonders auf das Opfer hingewiesen wird, das in Form körperlicher (und seelischer) Verstümmelung unzählbar mehr Buben bringen mussten als dann Opernstars wurden.

Eine CD "Marke Bartoli"
Wer Bartoli kauft, bekommt Bartoli "satt" - und das schon seit vielen Jahren. Spätestens seit Cecilia Bartolis epochalem Vivaldi-Recital, das im Alleingang als Initialzündung für die ungeheuerliche Vivaldi-Opern-Renaissance der Gegenwart gewirkt hat, ist es so, dass sich Gesangsmanier und Gesangsmanierismen der römischen Mezzosopranistin das ihnen gemäße Repertoire zugleich suchen und zurechtbiegen, nicht umgekehrt. Wer schafft es, sich der Verve, der ansteckenden Freude an der eigenen Tonproduktion, dem körperlich ausgelebten Schattierungsreichtum in Bartolis Live-Auftritten zu entziehen? Als "Entertainerin" ist Cecilia Bartoli im Klassik-Betrieb von heute konkurrenzlos.

Aus der "Konserve" gehört, ohne die Bannkraft der physischen Präsenz, können ihre mit musikologischer Akribie zusammengestellten, bis in die letzte Nuance ausgefeilten Konzertprogramme hingegen manchmal wirken wie ein Heiß-Kalt zwischen zwei wohldefinierten musikalischen Aggregatzuständen: hier furiose Attacke, mit wutentbrannten, funkenstiebenden Koloraturen, dort die hauchige, am Rand des stimmlichen Nichts balancierende Kantilene. (Als Studienobjekte bieten sich die in der Repertoireauswahl solitären Gluck- und Salieri-CDs von Cecilia Bartoli an.)

Stimmartistischer Wahnwitz
Auch bei der "Sacrificium"-CD ist das so, nur: die Schraube stimmartistischen Wahnwitzes ist mittlerweile noch um zwei, drei Windungen weitergedreht. Zudem hat sich Cecilia Bartoli diesmal mit den Übertreibungskünstlern des altbekannten Instrumentalensembles "Il giardino armonico" und seinem Leiter Giovanni Antonini zusammenspannen lassen, was so viel heißt wie: in den schnellen Nummern gibt es überhaupt kein Halten mehr, jeder denkbare Akzent kommt mit drei Ausrufungszeichen. Wüsste man nicht schon, wie die Bartoli solche Musik präsentieren kann, es würde einem der Atem stocken - zum Beispiel wenn sie sich, in einer der vielen musikalischen Ausgrabungen von "Sacrificium", im "Siface" des schulbildenden Nicola Porpora, Mailand 1725, in Vogelstimmen-Imitation ergeht. Und wäre sie eine Pianistin, man müsste von einer "transzendentalen Virtuosität" sprechen, mit der sie alle diese namenlosen zeitgebundenen Piecen aus einer so nicht mehr steigerbaren Gesangs-Ära, teils von bis dato völlig unbekannten Komponisten - Giacomelli, Araia ... -, neu zum Klingen bringt.

Doch ist es notwendigerweise eine kalte Virtuosität, die manchmal fast schaudern macht. Es regiert, in Erinnerung an die Kunst und die Künstlichkeiten des Kastratengesangs, der musikalische Extremismus auf dieser atemberaubenden Arien-Kompilation, die aus lauter CD-Premieren besteht und nur in der Luxus-Edition noch eine sparsam befüllte Supplement-CD mit (unter anderem aus dem erwähnten "Farinelli"-Film) bekannten Nummern enthält. Wie kann Cecilia Bartoli nach "Sacrificium" weitermachen?

Ein "Höher, Schneller, Weiter" ist nicht mehr denkbar. Die Meisterin musikalischer Dramaturgie hat bereits vorgesorgt: Kommenden Juli singt Cecilia Bartoli in Dortmund - vorerst konzertant - ihre erste Norma in der Oper von Vincenzo Bellini. Zur Bellini-Zeit waren die Kastraten bereits am Weg in die Versenkung der Operngeschichte, legendenumwoben und einmalig in ihrer Einseitigkeit.

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Cecilia Bartoli, "Sacrificium", DECCA

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