Eine in vielem spezielle Interpretation

René Jacobs dirigiert "Idomeneo"

Ein vielseitiger Operndirigent: 2009 leitete René Jacobs in Innsbruck Haydns "Orlando Paladino", in Wien Rossinis "Tancredi", und auf CDs geht mit einem fesselnden und in vielem ungewöhnlichen "Idomeneo" die Serie von Mozart-Opern weiter.

Alexandrina Pendatchanska als Elettra

Kann in Sachen "Idomeneo" im "Originalklang" überhaupt noch Neues gesagt werden? An sich hat Nikolaus Harnoncourt schon in den 1980er Jahren in Zürich die definitive "Idomeneo"-Einspielung geliefert: die Münchner Uraufführungs-Fassung einerseits, dazu im Anhang die späteren (beträchtlichen) Änderungen für Wien.

René Jacobs hat sich dennoch eine "Idomeneo"-Version zurechtgelegt, die in vielem speziell ist. Er geht noch einen Schritt weiter und bringt die Oper so, wie Mozart sie sich gedacht hat, ehe er für die Münchner Uraufführung kürzen, kürzen, kürzen musste.

Praktische Umsetzung überzeugt

Der Verlag Bärenreiter, Hüter der Neuen Mozart-Ausgabe, hat - ein außergewöhnlicher Fall! - nicht einmal die Mühe gescheut, diese Jacobs-Edition eigens im Druck herauszubringen. Es gibt also viel "Unerhörtes"; ob Spekulation dabei ist, wie öfters bei Jacobs, müssen die musikologischen Gralshüter entscheiden.

Die praktische Umsetzung überzeugt jedenfalls, weil "die Musik" bei René Jacobs nicht aufhört, wenn die Arien, die Chöre, die Ensembles zu Ende sind. Das ist seine Spezialität geworden: den Faden immer weiterzuziehen, auch durch die wichtig und dramatisch genommenen Rezitative, bei denen Jacobs nichts dem Zufall überlässt. (Nicht umsonst "komponiert" er die Rezitative aus und dirigiert sie bei Bühnenaufführungen sogar mit.)

Pathos der Distanz

René Jacobs und Mozart: Zuerst war sein da Ponte-Opern-Zyklus, in Inszenierungen, die alle auf "Aktualisierung" verzichtet und die Musik nicht an die Wand gespielt haben. Dann kam ein grandioser "Titus", der Schallplattenpreise gewonnen hat. Und nun ist da der neue "Idomeneo", der wieder so ganz anders klingt, als man "Mozart im Originalklang" in den letzten Jahren gewohnt war, mit dem warmen, atmenden Orchesterklang des Freiburger Barockorchesters.

"Zuerst war der da-Ponte-Zyklus"? Falsch! Zuerst war der Countertenor René Jacobs, der hin und wieder auch Mozart-Lieder sang. Seine Stimmlage wäre Idamante gewesen. Wann hören wir den ersten Countertenor in der Kastraten-Partie des Idamante? Nicht bei René Jacobs, dem Dirigenten. Er besetzt die Rolle mit der Mezzosopranistin Bernanda Fink, die schon in "La clemenza di Tito" sein makelloser, kühl brennender Sesto war, und der sonst so streitbare Jürgen Kesting fand für Bernarda Finks Idamante-Interpretation die schöne Formulierung "Pathos der Distanz".

Alexandrina Pendatchanska furios

Am hellsten lodert in der neuen "Idomeneo"-Gesamtaufnahme unter René Jacobs die Stimme der Elettra: Alexandrina Pendatchanska, furios, aber kontrolliert. Lange ist Alexandrina Pendatchanska auf der Suche gewesen nach "ihrem" Fach: Manches bei Donizetti, die Colbran-Rollen bei Rossini waren es am ehesten. Seit René Jacobs sie für sich entdeckt hat, ist sie aufgeblüht, im "Titus" als Vitellia, im "Don Giovanni" als Donna Elvira, und nun im "Idomeneo" als Elettra ohne hochdramatischen Kammersängerinnen-Bombast.

Mozart schreibt ihr Hochvirtuoses, aber dazwischen, im zweiten Akt der Oper, auch eine berührend sanfte Arie, an der sich gut zeigen lässt, welchen individuellen Zugang René Jacobs zu Mozart gefunden hat. Das erwartbare Legato-Musizieren, die Intimität des Tons, den die Szene fordert, sind da, doch zugleich kitzelt Jacobs aus dem Musikstück das Tänzerische heraus, das so noch kein anderer entdeckt hat. Überhaupt ist es bei ihm, als hätte die "Idomeneo"-Partitur alle heroischen Panzer abgelegt. Als ob ein Vorhang zur Seite gezogen würde und wir direkt ins Herz der Figuren schauen könnten.

Plädoyer fürs "Idomeneo"-Libretto
An der Spitze des Besetzungszettels steht der in den Koloratur-Kaskaden seiner Partie bravouröse Tenor Richard Croft, der sein "Fuor del mar" in dieser CD-Version aber nicht als Triumph-Arie schmettern darf. Wahrscheinlich sind Piano-Nuancen, wie Croft und Jacobs sie in dieser Arie bieten, auch nur im Plattenstudio zu erzielen.

Wenn man das Stück so hört, greift man unwillkürlich zum Libretto und liest den Text nach: "Dem Meer entronnen, tobt ein anderes Meer in meiner Brust" - und genau das will René Jacobs bewirken, der von der Qualität des in der "Idomeneo"-Literatur vielgeschmähten Textbuchs von Giambattista Varesco missionarisch überzeugt ist.

Genauigkeit und Überzeugungskraft
Etwas Gewöhnung braucht möglicherweise die gar zartstimmige Sunhae Im, die René Jacobs im "Don Giovanni" als Zerlina besetzt hatte und die nun als Ilia in CD-Konkurrenz zu Sängerinnen wie Pilar Lorengar, Sena Jurinac oder Edith Mathis tritt. Aber spätestens in den Ensembles stimmt Jacobs seine Sängerbesetzung wieder auf eine Weise aufeinander ab, dass einem der Atem stockt.

Wer hätte gedacht, dass man "Idomeneo" als immer leicht melancholisches Kammerspiel bringen kann? Speziell im 3.Akt mit seinen Orakelszenen, die bei Bühnenaufführungen meist dem Rotstift zum Opfer fallen, darf sich dieser "Idomeneo" ausbreiten, wird aber dennoch nicht langweilig - weil aus jeder kleinsten Geste bei den Instrumenten herausgeholt ist, was in ihr steckt, und weil sich die Solistinnen und Solisten an Genauigkeit und rhetorischer Überzeugungskraft überbieten.

Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 5. November 2009, 15:06 Uhr

CD-Tipp
Wolfgang Amadeus Mozart, "Idomeneo", Richard Croft, Bernarda Fink, Alexandrina Pendatchanska, Sunhae Im, Kenneth Tarver, RIAS Kammerchor, Freiburger Barockorchester, René Jacobs, harmonia mundi HMC 902036.38

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