Himmlische Erscheinungen in der Literatur

Gott auf Erden

Käme Gott zu den Menschen auf die Erde, in welcher Gestalt würde er den Menschen erscheinen? Würde er sich zu erkennen geben? Und was wäre der Grund seines weltlichen Zwischenspiels? Drei unterschiedliche Antworten aus Indien, England und Belgien.

Es war ein heruntergekommenes, quicklebendiges Mietshaus, das den Mathematikprofessor Manil Suri inspirierte. "Als Mathematiker zog mich das Abstrakte des Gebäudes an. Es ist in Stockwerke geteilt und hat auch eine vertikale Struktur. Die Stockwerke sollen eine Metapher sein für die religiösen Spaltungen und verschiedenen Klassen in Indien. Dass Vishnu in meinem Buch quasi aufsteigt und das Leben der Hausbewohner kennen lernt, ist als spirituelle Entwicklung gedacht: Je weiter man im Gebäude nach oben kommt, desto weniger sind die Leute materialistisch und desto mehr sind sie dem Spirituellen zugeneigt."

Eine indische Lindenstraße

Fünf Jahre dauerte der Weg von der Grundidee zum fertigen Roman, der höchst ungewöhnlich fast gleichzeitig in 14 Ländern erschienen ist. Manil Suri hat nicht nur die für uns exotische Realität der Megametropole Bombay, das heute Mumbai heißt, eingefangen und mit Legenden und Mythen verwoben, er hat rund um den sterbenden Mann auf dem Treppenabsatz eine Komödie menschlichen Verhaltens geschrieben - weshalb ein Rezensent dem Titel "Eine indische Lindenstraße" nicht widerstehen konnte.

Vishnu hat viele Vorbilder, nicht nur im Leben von Mail Suri: es ist durchaus üblich, jenen "Gangas", die niedere Dienste für verschiedene Familien verrichten, das Wohnrecht im Flur einzuräumen. Und die Gangas sinds zufrieden, für sie ist es wichtiger, Arbeit zu haben als Wohnung.

Von der Herrschaft lösen

Manil Suri plant übrigens, diesem Roman über Vishnu und den Tod noch zwei andere Teile hinzuzufügen, der Dreiheit Rama, Shiva und Vishnu bzw. deren Entsprechungen Geburt, Leben und Tod entsprechend: "The Birth of Brahma" und "The Life of Shiva", das mittlerweile als "Shiva" in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Und wieder spielt Manil Suri mit dem religiösen Wissen seiner Leser, zieht Parallelen zwischen Shivas Frau Parvati und Meera, der Frau, die sich im Roman von den sie beherrschenden Männern loslösen will, in einem Indien, das nach der Unabhängigkeit von Konflikten und Neuerungen erschüttert wird.

Britische Seifenoper mit himmlischer Assistenz

An den Rand des englischen Dartmoors in Devonshire zieht es - nach dem Willen der englischen Autorin Vickers mit dem irischen Vornamen Salley - einen gewissen Mr. Golightly. In einem ruhigen nicht zu großen Dorf hat er von seinen Helfern ein nettes kleines Cottage anmieten lassen, um dort seinen Bestseller zu überarbeiten, eine dramatische Dichtung, deren Nebenprodukte "die Basis einer weltweiten Organisation" begründet hatten.

In letzter Zeit war allerdings der Absatz dieses von Mr. Golightly gerne als Komödie bezeichneten "Opus Magnum" erheblich zurückgegangen, und deshalb wollte er seinen Akteuren und ihren Aktionen eine neue Chance geben, einen neuen "Aktionsradius". Seifenoper schien ihm die beste, weil zeitgemäßeste Form zu sein.

Aber trotz aller Unterstützung durch seine himmlischen Assistenten Mike, Bill, Martha und Muriel, trotz oder wegen der geheimnisvollen e-mails, die seinen Gedankenfluss durcheinander bringen, kommt Mr. Golightly nicht voran. Denn die Menschen in diesem ruhigen Dorf scheinen plötzlich ein ähnliches Leben zu führen wie die Personen, die er in der Bibel verewigt hat. Und dann überfallen ihn auch noch die schmerzhaften Erinnerungen an seinen Sohn... Eine wunderbare Geschichte, die trotz aller Fröhlichkeit sehr nachdenklich stimmt.

Antike Götter in Belgien

Und dann wäre da noch Malpertuis, einer der Klassiker der fantastischen Literatur, verfasst vom legendenumwobenen Belgier Jean Ray. Nach Malpertuis, seinem geheimnisvollen Haus hat der todkranke Onkel Cassave, ein alter Rosenkreuzer, seine Verwandten befohlen. Alle kommen, denn es geht um ein riesiges Vermögen. Aber die Bedingungen des Onkels sind hart: ab sofort darf keiner mehr das Haus verlassen, und nur derjenige erbt, der alle anderen überlebt.

Es folgt eine Reihe von bizarren Todesfällen, die in eigenartiger Verbindung zur griechischen Mythologie stehen. Kein Wunder, denn in Malpertuis leben die alten Götter der Antike, die kein Jota von ihrer alten Macht verloren haben.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 12. November 2009, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Manil Suri, "Shiva", Luchterhand

Manil Suri, "Vishnus Tod", btb

Salley Vickers, "Die Versuchungen des Mr. Golightly", Claassen

Jean Ray, "Malpertuis", Suhrkamp

Links
Contemporary Literature - Interview with Manil Suri
Manil Suri
Salley Vickers
Jean Ray