Polioforschung und -bekämpfung

Kein Ende der Kinderlähmung

Vor hundert Jahren ist der Erreger der Kinderlähmung, das Poliovirus, identifiziert worden. Erste Impfstoffe waren die Folge. Generationen von Kindern schluckten den Impfstoff auf einem Stück Würfelzucker. Ausgerottet ist das Virus aber noch nicht.

Ungefähr vom Jahr 1900 an bis in die 1950er Jahre gab es jeden Sommer einen Ausbruch der Poliomyelitis. Junge Kinder wurden gelähmt, manche von ihnen starben an dieser Lähmung, die anderen überlebten mit gelähmten und verkrüppelten Gliedmaßen.

An vielen Orten führte das zu richtigen Hysterien am Beginn jedes Sommers, Eltern fragten sich, wie sie ihre Kinder vor der Krankheit schützen konnten. Das galt für Europa und die Vereinigten Staaten über 50 Jahre lang. Die Erkenntnis, dass man etwas tun könnte, um der Krankheit vorzubeugen, was ein enormer Fortschritt - und vielleicht auch eines der ersten Beispiele, das Menschen das Gefühl gab, dass moderne medizinische Wissenschaft wirklich etwas zum Schutz ihrer Kinder tun konnte.

Das Polio-Ausrottungsprogramm

Die Entdeckung des Wieners Karl Landsteiner legte den Grundstein für eine wissenschaftliche Erforschung des Virus. Rund 50 Jahre später wurden zwei Impfstoffe entwickelt, die bis heute in unterschiedlichem Ausmaß verwendet werden.

Ganz ausrotten ließ sich das Virus allerdings noch nicht - trotz eines seit gut 20 Jahren laufenden Programms unter der Schirmherrschaft der Weltgesundheitsorganisation, das sich genau diesem Ziel widmet.

350.000 Fälle von Kinderlähmung oder Poliomyelitis gab es 1988 weltweit. Das war das Jahr, in dem die Weltgesundheitsorganisation WHO ihr Polio-Ausrottungsprogramm ins Leben rief. Ähnlich wie dem Pockenvirus sollte auch Polio weltweit der Garaus gemacht werden. In den folgenden zwölf Jahren sank die Zahl der Erkrankungen drastisch. Seit Beginn dieses Jahrtausends werden jährlich zwischen ein paar hundert und rund 2.000 Polio-Fälle gemeldet - und das Programm scheint zu stagnieren.

In vier Ländern tritt das Virus ständig auf

Indien, Pakistan, Afghanistan und Nordnigeria - in diesen vier Ländern ist das Poliovirus 21 Jahre nach Beginn der Ausrottungskampagne nach wie vor endemisch. Aus unterschiedlichen Gründen.

In Nigeria war das Hauptproblem lange Zeit, dass örtliche Gesundheitsmanager und Politiker das Problem einfach nicht ernst genug nahmen, und die WHO in ihren Aktivitäten nicht unterstützten. Das hat sich im letzten Jahr geändert - und auch die Zahl der Polio-Erkrankungen ist in Nigeria 2009 deutlich zurückgegangen. In Indien sind es vor allem die nordöstlichen Regionen Uttar Pradesh und Bihar, in denen Polio noch endemisch ist. Die beiden Bundesstaaten gehören mit insgesamt rund 287 Millionen Einwohnern zu den bevölkerungsreichsten Gegenden der Erde. Jeden Monat kommen dort eine halbe Million Babies zur Welt. Das Impfprogramm der WHO stößt an natürliche Grenzen.

Wie funktioniert die Ausbreitung des Virus?

Die orale Poliovakzine, den Schluckimpfstoff, gibt es seit 1961. Er wurde von Albert Sabin entwickelt und beruht auf abgeschwächten Polio-Viren.
"Der Schluckimpfstoff ist ein Lebendimpfstoff, der eine Infektion auslösen muss. Also das, was sie da schlucken, verursacht eine Infektion des Darms - es macht Sie nicht krank, aber es ist eine Infektion", erklärt Neal Nathanson Leiter des Global Health Programmes der University of Pennsylvania Medical School.

Er untersuchte die Geschichte der Polio-Epidemien und beobachtet die Ausbreitung des Virus seit Beginn der ersten Impfaktionen vor gut 50 Jahren. Heute nimmt man an, dass es das Polio-Virus zwar schon sehr lange gibt, es aber erst ab Ende des 19. Jahrhunderts große Epidemien hervorrief.

"Ein Charakteristikum von Polio war, dass es eine Sommerkrankheit war. Im Winter kam es so gut wie nie zu Neuerkrankungen. Wir wissen, dass das irgendetwas damit zu tun haben muss, wie schnell das Virus, das die Krankheit auslöst, sich ausbreitet. Wir wissen, dass es von einem Menschen zum anderen übertragen wird, in dem es über den Mund und über Exkremente ausgeschieden wird. Je schlechter die Hygienemaßnahmen sind - und die Hygienemaßnahmen kleiner Kinder sind normalerweise nicht sonderlich gut ausgeprägt - je weniger Hygienemaßnahmen also, desto leichter und schneller wird das Virus übertragen. So infizieren sich die Kinder und stecken andere weiter an. Warum das jetzt besonders im Sommer passierte, ist nicht wirklich klar. eine Spekulation geht dahin, dass das Virus besonders empfindlich auf geringe Luftfeuchtigkeit ist, wie sie in nördlichen Breitengraden im Winter meistens herrscht. Aber das ist nur eine Spekulation, wir wissen es eigentlich nicht."

Auch nicht Erkrankte sind ansteckend

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es alle paar Jahre zu heftigen Polioausbrüchen. Vor allem waren Kinder, in selteneren Fällen aber auch Erwachsene betroffen. Wenn das Virus ins Nervensystem kommt, kann es entweder eine oft tödlich endende Lähmung der Atmung verursachen - oder es sind die Gliedmaßen betroffen.

Das Poliovirus vermehrt sich vermutlich schon sehr lange im Menschen, und meistens tut es das, ohne eine Krankheit zu verursachen. Etwa ein Kind von 1.000 bis 2.000 infizierten erkrankt an Poliomyelitis - alle anderen sind aber auch ansteckend.

Der von den Forschern so genannte "Birmingham Man" ist ein Beispiel eines solchen Trägers, der seit Jahrzehnten Viren produziert. Ein Mann, der vor gut 20 Jahren gegen Polio geimpft wurde, scheidet seit dieser Zeit leicht abgewandelte Polioviren aus. Er ist nicht an Poliomyelitis erkrankt - aber die Viren, die er ausscheidet, sind potentiell krankheitserregend - und ansteckend. In einer Gegend, in der nicht fast alle Menschen Polio geimpft sind, könnte das gefährlich werden. Bisher gibt es keine Möglichkeit, die Polioinfektion des Birmingham Man zu beenden.

Von der Ausrottung des Poliovirus noch weit entfernt

Von der ursprünglich für das Jahr 2.000 angekündigten Ausrottung des Poliovirus ist die Weltgesundheitsorganisation noch weit entfernt. Nur einer der drei Subtypen des Poliovirus, der Typ 2 gilt als ausgerottet. Der besonders infektiöse Typ 1 und Typ 3 kommen immer noch vor. Die vier Länder, in denen Polio noch endemisch ist, also Indien, Pakistan, Afghanistan, und Nigeria sind auch für ihre Nachbarstaaten ein Problem.

Wichtige Financiers der Polio-Ausrottungskampagne sind Staaten wie etwa die USA und Großbritannien, oder auch Deutschland und Österreich. Dazu kommen private Geldgeber, allen voran die Rotarier, die für Poliokampagnen in den letzten 20 Jahren über eine Milliarde Dollar gesammelt haben und die Bill and Melinda Gates Foundation, die sich seit 1999 auch im Kampf gegen Polio engagiert und in dafür in den letzten zehn Jahren 680 Millionen Dollar aufgewendet hat.

Für die Polio-Forschung gibt es noch viel zu tun, sagt Eckhard Wimmer. Nicht nur, dass man nicht weiß, wo sich das Virus im Körper vermehrt und wann eine Polioinfektion auch wirklich zur Erkrankung führt. Unbekannt ist auch, wie im Einzelnen die Krankheit beginnt.

Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 24. November 2009, 19:05 Uhr